| # taz.de -- Essay Europa und die Flüchtenden: Die fehlende Solidarität | |
| > Die europäische Idee ist an ihre Grenze gekommen. Doch sie ist nicht | |
| > verloren. Es ist Zeit für eine Neubestimmung. | |
| Bild: So einfach wie ein Vogel können Menschen Grenzen nicht umgehen | |
| Seit der Eurokrise und dem Scheitern im Umgang mit den Flüchtlingen sitzt | |
| die Europäische Union auf der Anklagebank. Moralisches Totalversagen heißt | |
| der Vorwurf. Das Urteil wird in diesen Wochen von vielen gesprochen, die | |
| sich an der Seite der Flüchtlinge sehen. Mit [1][dem Türkei-Deal] habe sich | |
| die EU endgültig diskreditiert, sie habe ihre normative Basis versenkt wie | |
| ein Schlauchboot in der Ägäis. | |
| Im Schnellverfahren wird Europa zur vergehenden Epoche herabgestuft: für | |
| den menschlichen Fortschritt unbrauchbar, reif zum Abwracken. Der Zerfall | |
| der EU wird nicht mehr als Gefahr betrachtet, sondern als verdiente Folge | |
| politischer Verfehlungen. | |
| Die entschiedensten Gegner der EU waren bislang Rechtspopulisten, die mit | |
| Verachtung auf Frauen- und Homosexuellen-, auf Grund- und | |
| MigrantInnenrechte blicken, für die Brüssels Bürokraten ein Angriff sind | |
| auf nationale Souveränität. Aber langsam, so scheint es, erfasst auch die | |
| politische Linke eine seltsame Lust am EU-Untergang, die sich als | |
| fatalistischer Grundton durch die Flüchtlingsdebatte zieht. | |
| ## Geschichte des Grenzregimes | |
| Statt der EU aber gehören die Nationalstaaten auf die Anklagebank. Die | |
| Geschichte des sich vereinigenden Europa ist auch die Geschichte seines | |
| Grenzregimes. Die Öffnung nach innen ging einher mit der Abschottung nach | |
| außen. Schengen heißt Frontex, heißt sterben lassen, in einer Größenordnung | |
| von mehreren Zehntausend Menschen. Und die EU hat keineswegs nur die Türkei | |
| als Türsteher eingekauft, um Flüchtlinge aufzuhalten. Tatsächlich gibt es | |
| eine ganze Galerie ähnlich politisch anrüchiger Gestalten, mit denen sie in | |
| der Vergangenheit vergleichbare Abkommen geschlossen hat wie mit dem immer | |
| weiter abdriftenden türkischen Präsidenten Erdoğan. | |
| Doch die Schließung nach außen ist dem EU-Projekt nicht notwendigerweise | |
| eingeschrieben. Das Drama der Flüchtlinge ist nicht die Folge von zu viel | |
| europäischer Einigung, sondern von zu wenig. Lampedusa, Ceuta, Lesbos, | |
| Keleti, Idomeni – die Politik, für die diese Orte stehen, ist Folge | |
| europäischer Nationalismen. Und weniger Europa heißt: noch mehr Grenzen, | |
| mehr Abschottung, mehr Tote. Wer mit der Vorstellung einer auch nach außen | |
| offenen Gesellschaft etwas anfangen kann, kommt an Europa nicht vorbei. | |
| Doch weder die dem europäischen Gedanken innewohnende Idee der | |
| Freizügigkeit noch sein Potenzial, den Istzustand zu überwinden, hat dieser | |
| Tage noch viele Freunde. | |
| Warum, fragen viele, soll man die EU jetzt verteidigen, wo sie doch nicht | |
| einmal die kleinsten, drängendsten Schritte zuwege bekommt, um das Leid der | |
| Flüchtlinge zu mildern? Eine jämmerliche Diplomatie, die jahrelang dem | |
| Chaos im Süden Europas zusah und am Ende ein lächerliches | |
| Umverteilungsprogramm mit Hintertüren und Rücktrittsklauseln beschließt. | |
| Eine Union, die Kriegsopfern Militärschiffe entgegenschickt, ein Kontinent | |
| voll Stacheldraht und Hartherzigkeit. | |
| Die Antwort lautet: Zwar ist ist die EU ein Selbstbedienungsladen, in dem | |
| sich jeder nur nimmt, was ihm passt, was insbesondere für die Stärksten | |
| gilt. Aber: Das muss nicht so sein. Doch für ein solidarisches Europa | |
| müsste es seine Fehler der Vergangenheit vermeiden. Für diese Fehler steht | |
| beispielhaft der Umgang der EU mit Flüchtlingen. | |
| Im Urzustand der EU wurden Flüchtlinge zwischen den Staaten hin und her | |
| geschoben. Pate dieser Praxis ist Deutschlands Drittstaatenregelung von | |
| 1993: Wer kommt, wird zurückgeschickt in die Länder, durch die er gereist | |
| ist. Was die dann mit den Menschen tun, ist deren Problem. Das Dubliner | |
| Abkommen von 1997 sollte die Asylzuständigkeit europaweit klären. Ein | |
| vernünftiger Gedanke, der aber nur halb umgesetzt wurde und damit alles | |
| noch schlimmer machte: Verantwortung wurde nicht zur kollektiven Aufgabe | |
| erhoben, sondern den Schwächsten aufgezwungen. | |
| Eine Fehlentwicklung, die 2013 verschärft wurde. Die EU verabschiedete | |
| Regelungen, die alle Staaten verpflichten sollte, Flüchtlinge | |
| gleichzubehandeln. Doch die Staaten verhandelten das Recht zum Einsperren | |
| in das Paket hinein, den Rest ignorierten sie. Und Brüssel war nicht | |
| imstande, die Einhaltung der Flüchtlingsrechte gegenüber den nationalen | |
| Regierungen durchzusetzen. Weder hatte es die rechtliche Kompetenz noch das | |
| politische Durchsetzungsvermögen. Schließlich müssen die Staaten für die | |
| Flüchtlinge selbst bezahlen. | |
| ## Kollektive Aufgabe | |
| Ebenso war es bei der Seenotrettung: Menschen ertranken im Mittelmeer, die | |
| Kommission mahnte. Doch um das Retten der Flüchtlinge als kollektive | |
| Aufgabe anzugehen, fehlten ihr Kompetenz und Mittel. Staaten wie Italien | |
| hätten die Folgen effektiver Rettung allein tragen müssen. Also setzten sie | |
| lange auf Abschreckung. Die heutigen Zäune und die Obergrenzen verletzen | |
| das EU-Recht. Doch mehr als diplomatische Protestnoten gibt es nicht mehr. | |
| Brüssel finanziert jeden Bauern auf dem Kontinent. Die Kosten für die | |
| Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge aber vermochte es nicht zu | |
| kollektivieren. Warum war keiner bereit, den Schritt zu einer | |
| Gemeinschaftsaufgabe zu gehen, die anteilig von allen finanziert wird? | |
| Genau wie eine Seenotrettungsmission, die endlich das Sterben in der Ägäis | |
| beendet? Warum ist nicht das, statt des menschenverachtenden Türkei-Deals, | |
| die „europäische Lösung“, von der alle reden? | |
| Wenn es so weitergeht wie die EU annimmt, kommt in den nächsten Jahren im | |
| Schnitt eine halbe Million Flüchtlinge nach Europa – so oder so. Warum dies | |
| nicht akzeptieren und sie legal kommen lassen? Wenn von ihnen jedes Jahr | |
| nur etwa jeder Zehnte eine Arbeit findet, wäre für ihre Aufnahme eine Summe | |
| von gut 20 Milliarden Euro jährlich aufzubringen. Das ist etwa die Hälfte | |
| der jährlichen EU-Agrarsubventionen. Die EU zahlt, alle legen dafür | |
| zusammen. | |
| Wenn das europäische Recht auf Freizügigkeit auch auf Flüchtlinge angewandt | |
| würde, könnten diese ihren Antragsstaat frei wählen. Niemand müsste per | |
| Quote oder Fluchtroute in ein Land, in das er nicht will und das ihn | |
| partout nicht will. Die EU könnte im Gegenzug Verletzungen der | |
| Flüchtlingsrechte wirksam sanktionieren. Die Feindseligkeit, mit der | |
| Flüchtlingen heute vielfach begegnet wird, würde so nicht verschwinden, | |
| aber gedämpft. Der Rest wäre dem Effekt zu überlassen, den die Anwesenheit | |
| von MigrantInnen meist hervorruft: Die Menschen gewöhnen sich aneinander. | |
| Und warum nicht weitergehen auf einem Weg hin zu mehr Europa? Warum keine | |
| EU-Staatsbürgerschaft, immun gegen den völkischen Muff, der den nationalen | |
| Staaten immer wieder aufs Neue eingehaucht werden soll? Der Versuch, | |
| nationale Zugehörigkeit an Essenzialismen zu knüpfen, ist das zentrale | |
| Projekt der laufenden rechten Offensive in Europa. Die Antwort darauf kann | |
| lauten, Identität auf nationaler Ebene als heterogen, als vielfältig zu | |
| konstituieren. | |
| Doch kaum eine Neubestimmung könnte gründlicher mit dem Ausschluss | |
| aufräumen, als eine, die gleich auf europäischer Ebene ansetzt. Wenn an die | |
| Stelle einer nationalen Identität eine supranationale tritt, haben die | |
| Orbáns und Höckes dieser Welt verloren. | |
| ## Warum keine Sozialunion? | |
| Und was für Migration gilt, gilt auch für den Rest: Europa ist desto | |
| besser, je konsequenter es ist. Warum keine solidarische Fiskalunion, das | |
| bis heute fehlende Gegenstück zum Euro? Warum keine Sozialunion, die | |
| diskriminierende Maßnahmen im Sozialrecht überflüssig macht und eine echte | |
| Perspektive für eine Angleichung des Lebensstandards bietet? | |
| Die EU des Dublin-Regimes, das ihm lange Zeit die Flüchtlinge vom Hals | |
| hielt, hat Deutschland gern genommen. Die Währungsunion, dank deren es | |
| Krisenprofiteur blieb, während der Rest des Kontinents in die Rezession | |
| fiel, ebenso. Die Flüchtlingsunion wollte es erst, als andere Staaten gegen | |
| das Dublin-Regime rebellierten und die Nachteile für Deutschland zu | |
| überwiegen begannen. Aber da machten andere nicht mehr mit. Die Sozialunion | |
| schließt Deutschland bis heute aus. Aber wer diese alte, unsolidarische Art | |
| der Gemeinschaft will, muss dem Rest des Kontinents Austeritätspakte | |
| aufzwingen. Und sich am Ende mit Erdoğan einlassen. | |
| Die EU ist nicht an den Flüchtlingen gescheitert, sondern an ihrer | |
| Unvollendetheit. Bis zu einem echten europäischen Projekt ist es weit. Aber | |
| zurück ist es düster. | |
| 26 Mar 2016 | |
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