Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte EU-Türkei-Abkommen: Ein unmoralisches Geschäft
> Europas Flüchtlingspolitik folgt keinen humanitären Grundsätzen. Sie
> setzt auf die Veränderung von Marktanreizen.
Bild: Das Flüchtlingslager Öncüpinar Kilis in der Türkei, nahe der syrische…
Welcher Flüchtling bezahlt mit seinem letzten Geld bewusst die Einreise
eines anderen? Auf genau diesem Kalkül aber basiert der Flüchtlingsdeal
zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Zynisch ausgedrückt handelt
es sich um einen modernen Ablasshandel: Die sogenannte 1:1-Regelung besagt,
dass jeder Flüchtling, der illegal über die Ägäis nach Griechenland
einreist, in die Türkei zurückgeschickt wird. Wenn dieser Flüchtling Syrer
ist, wird im Gegenzug ein anderer syrischer Flüchtling legal in der EU
aufgenommen. Das bedeutet de facto, dass jeder Syrer, der Schlepper
bezahlt, um nach Griechenland überzusetzen, die legale Einreise eines
seiner Landsleute finanziert.
Da niemand dies tun würde, geht die Zahl der in Griechenland ankommenden
Flüchtlinge gegen null, die Schlepper werden arbeitslos – so weit die Idee.
Fragte man dann syrische Flüchtlinge in der Türkei, ob sie es sich
vorstellen könnten, illegal nach Griechenland einzureisen, würden sehr
wahrscheinlich viele dies verneinen. Warum? Weil sie sich sonst ganz hinten
in der Warteschlange für die legale Einreise nach Europa anstellen müssten.
Auch das ist im EU-Türkei-Abkommen geregelt.
Rücken die Flüchtlinge von dem Bestreben ab, auch auf illegalem Wege von
der Türkei aus nach Europa zu gelangen, wäre das ein politischer Erfolg,
der beinahe magisch erscheint und doch nur die Anpassung an veränderte
Marktbedingungen ist.
Tatsächlich kann man von einem „Flüchtlingsmarkt“ sprechen, den die EU mit
dem Abkommen neu regelt. Auf diesem Markt wird nun die Flucht über die
Ägäis mit Rückführung und der vergebenen Chance auf legale Einreise
bestraft. Deshalb bricht die Nachfrage nach den Diensten der Schlepper ein.
Nur wer in der Türkei brav wartet, wird belohnt – aber auch nur dann, wenn
ein anderer dafür bestraft werden kann. Flüchtlinge werden also
gegeneinander ausgespielt.
## Zweifelhaftes Tauschgeschäft
Es ist mehr als fraglich, ob die Anwendung solcher Marktregeln bei einem
sensiblen Thema wie der Flüchtlingspolitik den europäischen Werten nicht
rechtlich wie moralisch entgegensteht. Darüber hinaus stellt sich auch die
Frage der Gewährleistung. Wer trägt welche Verantwortung?
In jedes Tauschgeschäft sind drei Parteien verwickelt: ein
zurückgeschickter Flüchtling, einer, der dafür kommt, und die EU. Um den
Flüchtling, der kommt, kümmert sich Europa, aber was ist mit dem
Zurückgeschickten? Und was ist mit all jenen, welche in der Türkei warten?
Eine Kontrolle dieser europäischen Verantwortung durch die Öffentlichkeit
wird schwer werden, auch in Anbetracht der aktuellen Einschränkungen der
Pressefreiheit in der Türkei. Gerade deshalb kann das EU-Türkei-Abkommen
als Ablasshandel bezeichnet werden. Europa kauft sich von seiner
Verantwortung frei.
Noch etwas ist bei dem Abkommen entscheidend. Bei einer Obergrenze würde
ein Kontingent festsetzen, wie viele Flüchtlinge aufgenommen werden. Dieses
Kontingent würde dann ausgeschöpft. Anders jedoch der EU-Türkei-Deal: Er
wird, sofern er funktioniert, durch das Schaffen eines Marktes de facto die
Grenzen schließen. Dieser unsichtbare Zaun wird quasi von heute auf morgen
Flucht unterbinden. Der Anreiz zur Flucht verschwindet durch die Gefahr,
zurückgeschickt zu werden. Auch deshalb gehen in Brüssel manche davon aus,
dass vielleicht nicht einmal das erste Kontingent von 18.000 Menschen im
1:1-Flüchtlingstausch ausgeschöpft wird. Grenzschließung durch Veränderung
von Marktanreizen: Das ist ein Präzedenzfall.
## Der Plan wird funktionieren
Die Umsetzung der ganzen Idee ist vom Zusammenspiel unterschiedlicher
Akteure abhängig: der Politik, den Flüchtlingen selbst – und der
europäischen Gerichtsbarkeit, die darüber entscheiden könnte, ob der
EU-Türkei-Deal die Menschenrechte wahrt. Kann das Abkommen da überhaupt
funktionieren?
Ja, das wird es. Die Mächtigen Europas haben zu hart dafür gekämpft, als
dass sie den Deal jetzt an der Finanzierung oder an Aufnahme- und
Bearbeitungskapazitäten scheitern lassen würden. Auch die Türkei wird sich
an die Abmachungen halten. Denn gerade die am meisten geschätzten
Gegenleistungen für die Rücknahme der Flüchtlinge – Visafreiheit und
beschleunigte Beitrittsverhandlungen – sind keine Einmalzahlungen.
Bleiben die Flüchtlinge. Von der Türkei aus gäbe es für sie nur zwei Wege,
das Abkommen zu torpedieren. Erstens: ein Schwarzmarkt, auf dem Flüchtlinge
andere dafür bezahlen, die Flucht zu wagen, damit sie selbst legal nach
Europa einreisen dürfen. Ein solcher Markt würde aber auch dadurch
verhindert, dass kein Flüchtling weiß, welchen Listenplatz er hat.
Zweitens: kollektive Selbstorganisation. Ähnlich einer Gewerkschaft könnten
auch Flüchtlinge ihre Interessen am besten gemeinsam vertreten. Hierfür
fehlt ihnen jedoch gegenseitiges Vertrauen und nicht zuletzt Unterstützung
von außen.
## Zu müde für Proteste
Die Einzigen, die dem Abkommen theoretisch gefährlich werden könnten, sind
die Bürger in Europa und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in
Straßburg. Nach einem knappen Jahr verworrener Flüchtlingspolitik ist
jedoch leider kaum verwunderlich, dass die Menschen zu müde und
unentschlossen sind, um zu protestieren, während die Mühlen der Justiz zu
langsam mahlen würden.
Die Folge wird sein, dass die Flüchtlinge auf neue Routen ausweichen. Das
gilt jetzt schon für die Nichtsyrer in der Türkei, die schon jetzt
keinerlei Perspektive haben, nach Europa zu gelangen. Irgendwann werden
sich auch die vom Warten müden syrischen Flüchtlinge andere, illegale Wege
suchen. Sehenden Auges schickt Europa also auch weiterhin hilfsbedürftige
Menschen in die Hände der Schlepper auf gefährliche Reisen, wie die Fahrt
übers offene Meer von Libyen nach Lampedusa.
Die europäische Flüchtlingspolitik folgt nicht humanitären Grundsätzen,
sondern setzt auf die Veränderung von Marktanreizen. Die Frage lautet also
offenbar nicht länger, wie wir das hier in Europa schaffen können. Sondern
nur, was wir bieten müssen, damit andere die Dinge für uns regeln.
3 Apr 2016
## AUTOREN
Maximilian Linek
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Türkei
Flüchtlingspolitik
EU-Kommission
Schwerpunkt Türkei
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Türkei
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Flucht
Syrische Flüchtlinge
Schwerpunkt Türkei
## ARTIKEL ZUM THEMA
Vorschläge der EU-Kommission: Visumsfreiheit für TürkInnen
Türkische BürgerInnen sollen ohne Visum in die EU einreisen können. Auch
ist ein „Fairness-Mechanismus“ bei der Aufnahme von Flüchtlingen geplant.
Debatte Türkei: Atatürks späte Rache
Erdoğan kopiert nur den autoritären Stil der Atatürk’schen Modernisierung.
Ein neuer kultureller Aufbruch braucht eine veränderte Symbolpolitik.
Kommentar EU-Türkei-Abkommen: Europa bricht Versprechen
Mit dem Deal hat die EU ihre Flüchtlingspolitik komplett an die Türkei
ausgeliefert. Jetzt will und kann sie nicht mehr zurück.
EU-Türkei-Deal: Athen spielt mit
Im Eilverfahren regelt das griechische Parlament, wie Flüchtlinge in die
Türkei abgeschoben werden sollen. Schon ab Montag werden die Rückführungen
beginnen.
Flüchtlinge auf Lesbos: Der schmutzige Deal
Flüchtlinge, die nun in Griechenland ankommen, sollen in die Türkei zurück.
Hilfsorganisationen werden so zu Helfershelfern einer inhumanen Politik.
Flüchtlinge in Europa: Steinmeier kritisiert Grenzschließung
Der Bundesaußenminister kritisiert, dass die Balkanroute für Flüchtlinge
dicht gemacht wurde. Zugleich verteidigt er das Abkommen mit der Türkei.
Essay Europa und die Flüchtenden: Die fehlende Solidarität
Die europäische Idee ist an ihre Grenze gekommen. Doch sie ist nicht
verloren. Es ist Zeit für eine Neubestimmung.
Fluchtursachen bekämpfen: Kleine Version einer großen Idee
Die Bundesregierung will Flüchtlinge dazu bewegen, in ihrer Heimat zu
bleiben. Der neue „Marshallplan“ bleibt hinter dem historischen Vorbild
zurück.
EU-Flüchtlingspakt mit der Türkei: Fehlstart mit Obergrenze
Der umstrittene Flüchtlingspakt ist in Kraft. Und nun? Hier ein paar Fragen
und Antworten zum Deal mit der Türkei.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.