# taz.de -- Essay zur Zukunft eines Kontinents: Die zwei Europas | |
> Wer Europa sagt, kann nicht sicher sein, was der andere versteht: | |
> ökonomischer Machtraum oder Hoffnung auf eine gute Gesellschaft. | |
Bild: Macht, Geld, Gewalt, aber auch Hoffnung und Frieden – Europa ist eine g… | |
Zeus hat Europa verführt, sagt der Mythos. Dabei wissen alle, dass Zeus’ | |
Verführungen oft Vergewaltigungen sind. Rücksichtslos nimmt er sich, was er | |
will. | |
Ihr Name, Europē, ist zusammengesetzt aus dem altgriechischen eurýs, „weit�… | |
und óps, „Sicht“, „Gesicht“. Europa: „Frau mit weiter Sicht”. Name… | |
Figur sind eine Allegorie auf diese geografische Einheit, die mehr sein | |
will als eine Fläche zwischen Nordpol und Mittelmeer, zwischen Atlantik und | |
Ural, die weite Sicht sein will. Und Weitsicht – utopisches Denken. | |
Derzeit geht es Europa nicht gut. Dabei war sie zuletzt mehr als eine | |
geografische Einheit mit vielfältiger Kultur. Ihre Kohärenz, Integrität, | |
Gesamtheit wurde gefeiert. Das Vergewaltigungstrauma, das oft eine | |
Dissoziation des Körpers bewirkt, bis hin zur multiplen Identität – und das | |
sich aufgrund der kriegs- und gewaltlastigen europäischen Geschichte an den | |
vielen europäischen Nationen, Sprachen, Kulturen manifestiert –, wurde | |
therapiert. Politiker begannen, die multiple Identität von Europa | |
zusammenzuschweißen. | |
Verdeckt wurde durch diese Therapie, dass Europa nicht nur viele | |
Identitäten hat, sondern auch zwei Zustände: Realität und Utopie. Die | |
einen, Ökonomen, Unternehmer, Banker, Reisende, behandeln Europa, als wäre | |
Europa ganz bei sich, ganz authentisch. Die anderen, Menschenrechtler, | |
Pazifisten, Emanzipationsbefürworter, glauben, Europa müsse noch | |
verwirklicht werden als Ort, wo Frieden, Gleichheit, Verständigung, | |
Akzeptanz, Respekt für das Andere herrschen. | |
## Das Zeusprinzip | |
Für die, die Europa wirtschaftlich denken, ist alles okay: Geschäfte sind | |
hier zu machen, es gibt Märkte und Menschen – also Warenumsatz. Von Anfang | |
an stand der Wirtschaftsgedanke im Vordergrund, schon als Belgien, die | |
Niederlande, Deutschland, Italien, Luxemburg und Frankreich die Montanunion | |
gründeten, die Keimzelle Europas. Wirtschaftsdenken sollte die | |
multinationale – also multiple? – Persönlichkeit Europas zusammenhalten. | |
Nur: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“, sagte Jacques Delors, | |
der geistige Vater des EU-Binnenmarktes, als der 1993 in Kraft trat. Das | |
Gegengewicht sind Projekte, die die europäische Utopie im Blick haben. Die | |
sind aber im Feiermodus hängen geblieben. Wie die deutsch-französische | |
Freundschaft, europäische Kulturhauptstädte, das Erasmusprogramm. Über drei | |
Millionen Erasmus-AbsolventInnen gibt es inzwischen – geblieben sind | |
private Kontakte, kein Erasmusverband, der die europäische Gesellschaft | |
mitgestaltet. Der Bund der Vertriebenen ist bis heute wirkmächtiger als | |
sie. | |
Für die, die die Einheit Europas jenseits von Geld, Ökonomie und Party | |
verwirklicht sehen wollen, bleibt Europa fiktiv. Die EuropäerInnen werden | |
auf Einheit eingeschworen, aber alles, was Einheit herstellen könnte, ist | |
nicht Grundlage des identitätsstiftenden europäischen Arrangements: gleiche | |
Verteilung von Ressourcen, Wertedebatte, Menschenrechte, Bewahrung der | |
Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen. | |
Etwas stimmt nicht mit dieser ganzen Sache. Die Fixierung auf Europa könnte | |
das Problem sein. Dadurch ist der Gegenspieler aus dem Blick geraten. Die | |
Frage ist gar nicht, wer oder was ist Europa. Die Frage ist: Wer ist Zeus? | |
Wer setzt mit Macht etwas durch? Worin verbirgt sich das Zeusprinzip? | |
Eigentlich ist es normal, dass zwei Menschen sich im Liebesakt vereinigen. | |
Bei einer Vergewaltigung kehrt sich der Liebesakt um: Was man freiwillig | |
geben wollte, wird mit Macht geholt. Europa baut auf diesem | |
Missverständnis. Die Rolle der Macht, das Zeusprinzip, wird nicht infrage | |
gestellt. | |
Mittlerweile ist es doch so: Für Großmächte wie die USA, China, Kanada ist | |
das real gedachte Europa eine ernstgenommene Partnerin. Man macht | |
Geschäfte, schließt Abkommen. TTIP und Ceta sind der neueste Höhepunkt | |
dieses Begehrens. Abkommen aber werden mit einer Einheit geschlossen, die | |
in sich nicht geeint ist. Europa hat keine Verfassung. Ist in keiner guten | |
Verfassung. | |
Dieses Missverhältnis zeigt sich an vielem: Nullzinspolitik schützt die | |
Wirtschaft, beklaut aber die, die nur wenig Gespartes haben. | |
Austeritätspolitik etwa Griechenland gegenüber, aber auch die Agenda 2010 | |
in Deutschland fördern die Verarmung, schützen jedoch die europäische | |
Wirtschaft. Die Fixierung auf den Geldkreislauf erodiert soziale Gefüge | |
weiter: Bauern finden kein Land mehr, weil transnationale Investmentfirmen | |
es aufkaufen, Menschen finden keine bezahlbare Wohnung, seit Immobilien | |
Spekulationsobjekte sind. Die europäische Politik belohnt Banker und | |
Aktionäre mit Subventionen und Abschreibungen. | |
## Alles wird umgedreht | |
Arbeit, so das nationale Steuerdogma, ist der Hauptmotor, um etwas zu | |
verdienen. Europas Hauptmotor dagegen ist Geld, mit dem weiter Gewinne | |
gemacht werden. Geld, das nicht alle haben. Mehr als ein Viertel der Kinder | |
in Europa sind laut einem EU-Bericht armutsgefährdet. Die Armutsrate bei | |
alten Menschen in Deutschland steigt kontinuierlich und liegt gemäß | |
Armutsbericht 2016 des Paritätischen Wohlfahrtsverbands bereits bei 15,6 | |
Prozent. Die Flüchtlingskrise, ein Menschenrechtsthema, das die Chance | |
gelebter Solidarität bot, wird mit sechs Milliarden Euro, einem monetären | |
Deal, gelöst. Alles wird umgedreht, alles, was besser werden sollte, wird | |
schlechter. Aber es ist kein Gegengewicht da. Niemand reagiert, Analysen | |
kommen, wenn sie kommen, verzögert und zu spät. | |
Merkel ist eine der wichtigsten Akteurinnen, wenn es darum geht, das Europa | |
der Ökonomen zu fördern. Warum? Sie hat Macht. Sie hat, was Zeus hatte. Wer | |
und wo also ist Zeus heute? Hat Europa Zeus in sich aufgenommen? Hat sich | |
Europa mit Zeus, dem Aggressor, identifiziert? Das Muster kennt man aus | |
Gewaltbeziehungen: „Ich hab das ausgelöst, dass er mich missbraucht.“ | |
Viele Politiker macht die Fixierung auf das Zeusprinzip stumpf für das | |
Europa der weiten Sicht, der Utopie. Die eigentlichen Triebkräfte des | |
Menschen: das Unbewusste, die Erkenntnissehnsucht, werden von ihnen | |
abgewehrt, werden zu blinden Flecken. | |
Aber wer sagt, dass nur jene, die am Machtprinzip hängen, entscheiden, was | |
Europa ist? Auch die, die an die europäische Utopie glauben, sind eine | |
Kraft. Sie spüren sie nur zu schwach. | |
2 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Bettina Schötz | |
Waltraud Schwab | |
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