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# taz.de -- Herfried Münkler über die Krise der EU: Imperium Europa
> Der Politikwissenschaftler plädiert für eine entschlossene Politik der
> EU. Er erklärt, welche historischen Vorbilder helfen können.
Bild: Am Rand des Imperiums: eine deutsche Grenzschützerin mit ihrem Frontex-K…
taz: Herr Münkler, warum ist es so schwierig, die EU mit einem Begriff zu
fassen?
Herfried Münkler: Es ist mehr als ein Staatenbund und weniger als ein
Bundesstaat. Man spricht von einer Mehr-Ebenen-Struktur oder von einem
Projekt sui generis. Die Souveränität ist geteilt. Als
Politikwissenschaftler sage ich: Es ergibt Sinn, Europa als Imperium zu
beschreiben.
Aber Imperien haben starke Zentren.
Nicht immer. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation hatte vom
Westfälischen Frieden 1648 bis zu seinem Ende 1806 kein starkes Zentrum. Es
expandierte nicht militärisch nach außen, sondern bot Schutz vor dem Außen.
Es wurde von Regeln und Recht zusammengehalten, das Reichskammergericht
hatte eine wichtige Funktion. Die wesentliche Aufgabe des Reiches bestand
darin, Kriege untereinander zu vermeiden, was nicht immer, aber oft gelang.
[1][Das war eine Konsequenz aus den Verwüstungen des Dreißigjährigen
Krieges.] Dieses Reich war ein imperiales, aber kein imperialistische
Gebilde.
Tragen solche historischen Metaphern zur Erhellung bei?
Zur Erhellung und Selbstversicherung. Der historische Rückblick zeigt, dass
es Gebilde gab, die der EU in manchem verwandt und die für lange Zeit
erstaunlich stabil und funktionstüchtig waren. Die Bewohner des Heiligen
Römischen Reiches hatten auch Multiidentitäten. Die exklusive nationale
Identität war ja eine Erfindung des Nationalstaates des 19. Jahrhunderts.
Das gibt angesichts der Komplikationen der EU eine gewisse Zuversicht. Wenn
man die historische Metapher des Imperiums ernst nimmt, haben wir es bei
der EU mit einer Reichsbildung von sehr langer Dauer zu tun.
Wo ist das Zentrum der EU?
Das besteht aus der EU-Kommission, dem Europaparlament, dem Ministerrat und
darin der deutsch-französischen Achse.
Seit 2004 sind der EU 13 östliche Staaten beigetreten. Ist der Preis für
diese Ausdehnung zu hoch, weil das Zentrum in dem neuen größeren Raum zu
schwach ist, um zu führen?
[2][Die EU ist mit jeder Erweiterung immer heterogener geworden, vor allem
mit der Osterweiterung.] Bei Sicherheit denken Polen und Balten an
Russland, in Italien und Spanien denkt man eher an Afrika. Doch die
Erweiterungen nach Osten haben im weiteren Sinn durchaus mit imperialer
Logik zu tun. Denn dieser Raum war in der Zeit von 1919 bis 1938, also
zwischen den Weltkriegen, unfriedlich. Polen führte drei Kriege gegen
Sowjetrussland, Ungarn und Rumänien bekriegten sich, ebenso die Türkei und
Griechenland. Die Probleme, die damals existierten, waren zum Teil nach
1990 noch vorhanden. Etwa, dass 40 Prozent der Ungarn jenseits der
ungarischen Grenzen leben. Was passieren kann, wenn latente Gewalt
explodiert, konnte man in Jugoslawien sehen. Deshalb hat die EU viel
getan, um dies zu verhindern. Das war einer der Imperative für die
Osterweiterung.
Muss man nicht von imperial overstretch reden?
Nicht in dem Sinne, dass die Räume, die zu beherrschen sind, zu groß
geworden sind, wie es dieser Begriff nahelegt. Aber in dem Sinne, dass es
nicht gelungen ist, die EU strukturell entsprechend zu verändern. Die
Herausforderung sind größer als die eigenen Fähigkeiten, mit ihnen
umzugehen. Das ist auch eine Form von imperial overstretch.
Welche Rolle haben die Ukraine und der Maidan 2014 gespielt? War das das
Ende der EU-Ausdehnung?
Der damalige deutsche Außenminister Westerwelle auf dem Maidan war ein
Zeichen, dass sich der Raum der EU-Politik weit nach Osten verschoben hatte
– bis an den Rand der russischen Einflusssphäre beziehungsweise bis in
diese hinein. Um in der in Ost und West gespalten Ukraine als politischer
Player aufzutreten, hätte die EU ein stabiles Vertrauensverhältnis zu Putin
gebraucht. Oder aber erkennen müssen, dass in solchen Einflusszonen der
Mehrheitswille von Bevölkerungen nur begrenzt gilt und gelten kann. Die EU
hat sich von ihren politischen Sympathien leiten lassen und dabei
übersehen, dass eine stabile Ordnung die Abgrenzung von Einflusszonen
einschließt. Das ist aber ein klassisch imperialer Gedanke.
Die EU muss imperialer denken, um ihre eigenen Grenzen zu begreifen?
Die EU hat jedenfalls nicht imperial gedacht. Sie ist in diesen Konflikt
hineingestolpert. Russland ist aus deutscher Perspektive im Zweifel
wichtiger als die Ukraine. Dies jungen Ukrainern nahezubringen, ist
schwierig, aber nötig. Grenzen zu überschreiten, ohne die Probleme, die
daraus folgen, lösen zu können, das ist eben imperial overstretch.
Wenn die EU ein Imperium ist, was ist seine Mission?
Ein Raum des Friedens und Wohlstand zu sein. Das sind die beiden
Schlüsselbegriffe der EU.
Aber der Gründungsmythos der EU als friedensbewahrende Kraft nach 1945
verblasst.
Diese Leiterzählung ist auf Deutschland und Frankreich fokussiert. Die
Montanunion sollte sicherstellen, dass Deutschland nicht noch einmal die
Fähigkeit bekommt, Krieg zu führen. Das ist der Nukleus der EU. Ein
Staatenkrieg in Kerneuropa um Elsass und Lothringen ist seit Langem
unwahrscheinlich – auch wenn man davon in Deutschland überzeugter ist als
in Frankreich. Insofern kann man von Verblassen sprechen.
Imperien kennzeichnet, dass sie fähig sind, an ihren Grenzen eigene
Ordnungsideen durchzusetzen. Trifft das für die EU zu?
Die Probe waren die Jugoslawienkriege. Dort hat die EU mit Polizei,
Verwaltung, wenig Militäreinsatz und viel Geld eine Stabilisierung
erreicht.
Ist der Balkan die Region, in der sich die imperialen Fähigkeit der EU
beweisen?
Ja, es ist zentral, ob der EU auf dem Balkan inklusive Griechenland der
Transfer von politischer Stabilität und in Maßen wirtschaftlicher
Prosperität gelingen wird. Diese Region ist historisch ein Gebiet
russischer Einflussnahme. Und es gibt dort Andockpunkte chinesischer
Einflussnahme. Der Balkan kann die Region werden, in der Europa zerbröselt.
Wenn man sich dies vor Augen führt, hat Merkel zwei imperiale
Entscheidungen getroffen.
Inwiefern?
Sie ist Schäuble nicht gefolgt, sondern hat Griechenland im Euro gehalten.
Die Bedingungen dafür wurden vom Zentrum, von Brüssel und Berlin, diktiert
– egal wen die Griechen wählten. Ein für imperiale Gebilde typisches
Machtgefälle.
Das griechische Volk konnte souverän entscheiden, ob es die Eurozone
verlassen oder ob es bleiben wollte. Das in der Tat nur zu den Bedingungen
der Gläubiger. Aber ich möchte auf etwas anderes hinaus: Im Herbst 2015 hat
Merkel entschieden, mehr als eine halbe Million Migranten aufzunehmen.
Hätte sie das nicht getan, wäre das schwierige religiös-ethnische
Gleichgewicht auf dem Balkan gefährdet worden, und ein Wiederaufflammen des
Krieges auf dem Balkan wäre wahrscheinlich geworden. Also: Athen im Euro zu
halten und der Flüchtlingsherbst waren weitsichtige Investitionen in die
Stabilität dieses Raums – wohl wissend, dass dies in Deutschland
Schwierigkeiten bescheren würde.
2015 hat die tiefe Krise der EU bloßgelegt: die Unfähigkeit, sich auf eine
Verteilung der Flüchtlinge zu einigen. Rechtspopulismus, Eurokrise, Brexit
sind fundamentale Erschütterungen.
Wenn man sich das Heilige Römische Reich im Mittelalter und auch nach 1648
anschaut, so war dort immer Krise. Nicht in dem medizinischen Sinn, dass es
nur noch die Alternative Tod oder Gesundung gab, sondern als Modus Vivendi.
Die Europäische Union schien lange mit jeder Krise stärker zu werden. Das
ist nicht mehr der Fall. Die Rechtspopulisten waren zwar bei der Europawahl
nicht übermäßig erfolgreich. Trotzdem gelingt es ihnen, die Debatte zu
dominieren, weil die Mitte-Politiker Rücksicht auf sie nehmen. [3][So
gelingt es den Rechtspopulisten, in den Staaten des Zentrums die
Investitionen in die Ränder der EU zu skandalisieren. Die sind aber nötig,
um das Imperium zu stabilisieren.] Das wird nur eine Weile gutgehen.
Der Althistoriker Alexander Demandt hat geschrieben, dass mit dem Untergang
der UdSSR die Geschichte der großen Reiche vorbei ist. Stimmt das?
Nein, China ist ein Imperium, die Seidenstraße ein imperiales, wenn nicht
ein imperialistisches Projekt. Russland tritt mit der Präsenz im
Syrienkrieg imperial in einem weit ausgreifenden Sinn auf. Ich vermute,
dass das Imperiale in Zukunft eine größere Rolle spielen wird als in den
Zeiten, als die USA Hüter der globalen Ordnung waren.
Ist das in Afghanistan und Irak endgültig gescheitert?
Ja, es wird keinen Nachfolger für diese Rolle geben. China ist nicht reich
genug, Europa nicht bereit, die hohen Kosten zu übernehmen. Wenn eine
unipolare Ordnung zerfällt, entstehen oft Systeme mit fünf Akteuren.
Nachdem die kaiserliche Macht in Italien im 13. und 14. Jahrhundert
zerfiel, entstand die Lega von Lodi mit Mailand, Florenz, Venedig, Neapel
und dem Kirchenstaat. Als das Habsburger System am Ende des Dreißigjährigen
Krieg zerfiel, blieben fünf Machtzentren: der Kaiser in Wien, Spanien,
Frankreich, England, Schweden. Als Napoleons Imperialprojekt zu Ende ging,
waren es wieder fünf: Preußen, Österreich, Frankreich, Großbritannien,
Russland.
Warum fünf?
Drei ist als stabiles System schwierig, weil sich oft zwei gegen einen
verbünden. Gerade Zahlen sind offenbar auch anfällig für Bündnisse, die das
System zerstören. Jetzt zeichnet sich ein Szenario mit den USA, China, der
EU, Russland und Indien als neue Imperien ab. Wenn die EU vereinigt bleibt,
kann sie die Regeln mitbestimmen. Wenn nicht, wird Europa zur
Einflusssphäre eines der anderen Imperien werden.
7 Sep 2019
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## AUTOREN
Stefan Reinecke
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