| # taz.de -- Bürgerkrieg in Syrien: Krieg der Hegemonialmächte | |
| > Der Aufstand wurde zu einem der längsten Bürgerkriege seit 1945. Der „IS�… | |
| > nutzte ein Machtvakuum, das auch für andere Staaten attraktiv ist. | |
| Bild: Wer so alles mitmischt im Syrienkrieg, sieht man hier recht anschaulich | |
| Selten hat sich die Wahrnehmung und Beschreibung eines Krieges so schnell | |
| und so grundsätzlich verändert wie beim Krieg in Syrien: Was zunächst als | |
| ein in die Länge gezogener Aufstand gegen ein politisch überlebtes Regime | |
| erschien, wurde zu einem der längsten Bürgerkriege nach 1945. Die | |
| militärischen Erfolge des „Islamischen Staates“, dessen weit ausgreifende | |
| Eroberungen, die symbolische Einebnung der syrisch-irakischen Grenze und | |
| schließlich die Ausrufung des Kalifats machten Syrien zum neuen Brennpunkt | |
| des Dschihad. Diese Entwicklungen führten zum Eingreifen des Westens in den | |
| Krieg, wobei sich die Luftschläge gegen den IS zunächst auf irakisches | |
| Gebiet konzentrierten und erst schrittweise auf syrisches Territorium | |
| ausgeweitet wurden. | |
| Und schließlich wurde der Krieg in Syrien zu einem Krieg um die | |
| Vorherrschaft in der Region, in dem sich Saudi-Arabien und der Iran | |
| gegenseitig auszustechen suchten, in dem aber auch die Türkei und | |
| schließlich sogar Russland eine zentrale Rolle spielten. Der | |
| dschihadistische Fokus, der ein Jahr lang die Berichterstattung dominiert | |
| hatte, trat in den Hintergrund. Stattdessen galt die Hauptsorge der Gefahr, | |
| dass sich der Krieg ausweiten und zum regionalen Flächenbrand werden könne. | |
| Jetzt dominierten wieder die diplomatischen Bemühungen, um den Krieg wenn | |
| schon nicht zu beenden, so doch einzudämmen. So hat der Syrienkrieg ständig | |
| sein Erscheinungsbild gewechselt. | |
| Es gehört zu den politischen Binsenweisheiten, dass Machtvakuen Akteure von | |
| außen anziehen. Für sie entsteht ein Raum, in dem sie um ein Vielfaches | |
| größer werden, als sie ursprünglich waren. Das gilt für die Terrormiliz des | |
| „Islamischen Staats“, die in Syrien aus dem Schatten von al-Qaida | |
| herausgetreten und zur Führungsmacht des Dschihadismus avanciert ist. | |
| Ebenso gilt es für Russland, das den Krieg in Syrien genutzt hat, um mit | |
| den USA wieder „auf Augenhöhe“ verhandeln zu können. | |
| Machtvakuen sind Räume, in denen scheinbar politische Zauberkünste wirken: | |
| Wo strukturierende Macht fehlt, können externe Akteure Macht im Übermaß | |
| akkumulieren. In ihnen kann aus dem augenscheinlichen Wenig ein ungeheuer | |
| Viel werden. Es ist deswegen politisch nicht ratsam, solche Vakuen über | |
| längere Zeiträume bestehen zu lassen in der Hoffnung, man könne sie | |
| räumlich wie zeitlich begrenzen und auf diese Weise unter Kontrolle halten. | |
| Einmal mehr hat sich das im Fall Syriens als Illusion erwiesen. | |
| ## Die Attraktivität des Machtvakuums | |
| Der IS hat mit dem Fortgang des syrischen Bürgerkriegs das Zentrum seiner | |
| Aktivität vom Irak nach Syrien verlegt. Hier waren Erfolge leichter zu | |
| erzielen. Deren demonstrative Zurschaustellung führte dazu, dass etwa | |
| 30.000 dschihadistische Kämpfer aus dem arabischen Raum, dem Kaukasus und | |
| Europa nach Syrien strömten, um sich dort dem IS anzuschließen. Der gewann | |
| so immer mehr an Schlagkraft, und schließlich schworen Dschihadistengruppen | |
| in aller Welt seinem Anführer Abu Bakr al-Baghdadi die Treue. | |
| Gleichsam über Nacht verwandelte sich so eine der Gruppen, die aus dem | |
| irakischen Bürgerkrieg hervorgegangen war und die bis dahin außer weniger | |
| Experten niemand gekannt hatte, in einen Akteur, der die | |
| Entscheidungszentren der Weltpolitik beschäftigte. Das war zum Teil ein | |
| durch die Hinrichtungsvideos des IS befeuertes Medienereignis, aber es | |
| erschöpfte sich nicht darin, wie der Siegeszug der IS-Milizen bis nach | |
| Mossul und vor die Tore Bagdads zeigt. | |
| Machtvakuen üben aber auch eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf | |
| politische Akteure aus, die in dem fraglichen Raum einmal eine Rolle | |
| gespielt haben, das aber seit Längerem nicht mehr tun. Syrien ist | |
| geographischer Bestandteil des postimperialen Raums zwischen Levante und | |
| Jemen, Mesopotamien und libyscher Wüste, der aus dem Zerfall des | |
| Osmanischen Reichs entstanden ist. Dass die türkische Politik hier | |
| Begehrlichkeiten entwickeln würde, war nicht verwunderlich. | |
| Wer sich mit der Geschichte dieses Raumes beschäftigt hat, weiß, dass schon | |
| das zarische Russland ein Auge auf diesen Raum geworfen hatte. Russlands | |
| Kriegsziele von 1914 bestanden auch darin, das eigene Einflussgebiet über | |
| den Südkaukasus hinaus in den arabischen Raum auszuweiten. Es war die | |
| Oktoberrevolution, die Russland aus diesem geopolitischen Projekt | |
| herauskatapultierte. | |
| ## Neoimperiale Träume | |
| Das Machtvakuum in Syrien hat in der Türkei und in Russland die Erinnerung | |
| an die einstige Rolle und die früheren Interessen wieder aufleben lassen. | |
| Postimperiale Räume geben Platz für neoimperiale Träume. Das lässt sich an | |
| der Syrienpolitik Putins wie Erdoğans beobachten. | |
| Dennoch wäre es unzutreffend, die gegenwärtigen Konstellationen, zumal die | |
| des Vorderen Orients, analog zu den Zeiten, die vor einem | |
| Vierteljahrhundert zu Ende gegangen sind, als Wiederkehr des Kalten Kriegs | |
| zu bezeichnen, wie das der russische Außenminister Sergei Lawrow kürzlich | |
| getan hat. | |
| Im Kalten Krieg standen sich zwei Bündnissysteme gegenüber, von denen jedes | |
| „seinen“ Teil der Welt unter Kontrolle hatte und darin für die jeweilige | |
| eigene „Ordnung“ sorgte. Davon kann heute nicht die Rede sein. Und vor | |
| allem ließen sich in der Zeit des Kalten Krieges tendenziell alle Kriege, | |
| die irgendwo ausgetragen wurden, mit einiger Plausibilität als | |
| Stellvertreterkriege bezeichnen: Die Kontrahenten in Ost und West | |
| versorgten die Kriegsparteien mit Waffen und Munition, Geld und | |
| Legitimation. Demgemäß hatten sie auch Einfluss auf das Geschehen und | |
| konnten den Krieg eskalieren oder enden lassen. Das ist bei den neuen | |
| Kriegen gerade nicht der Fall. Sie haben sich verselbständigt und gehorchen | |
| anderen Mechanismen der Eskalation und Moderation, und auf die haben die | |
| großen Mächte nur geringen Einfluss. | |
| Aber womöglich ist der Blick auf die Strukturen des Kalten Krieges auch | |
| hilfreich: Seitdem die Russen in den Syrienkrieg eingegriffen haben, sind | |
| die Konstellationen überschaubarer geworden, und es gibt eine begründete | |
| Aussicht auf die Beendigung des Krieges. Die russische Intervention hat die | |
| Lagerbildung gefördert, und das wiederum ist die Voraussetzung für | |
| Gespräche über eine Beendigung des Krieges; jedenfalls bei denen, die dem | |
| russisch-iranischen oder dem amerikanisch-saudischen Lager zuzurechnen | |
| sind. Auf dieser Grundlage wurden auch die jüngsten | |
| Waffenstillstandsgespräche geführt. Davon ausgespart blieben Gruppierungen | |
| wie der „Islamische Staat“ und die Al-Nusra-Front, die infolge ihrer | |
| islamistischen Programmatik keinem dieser beiden Lager angehören. | |
| ## Spiel mit dem Feuer | |
| Im optimalen Fall kommt es zwischen beiden Lagern zu einer tragfähigen | |
| Übereinkunft, die wohl auf eine dauerhafte Departementalisierung Syriens | |
| hinausläuft, während die nicht eingebundenen Islamisten mit militärischen | |
| Mitteln zerschlagen werden. Der Krieg in Syrien wäre nicht zu Ende, aber | |
| die Gefahr seiner weiteren Eskalation wäre dann einstweilen gestoppt. | |
| Sollte es so kommen, gäbe es kein wirtschaftlich lebensfähiges Syrien mehr, | |
| sondern Teile, die dauerhaft auf die finanzielle Alimentierung durch die | |
| jeweilige Unterstützerseite angewiesen sind. Konkret hieße das wohl, dass | |
| der Iran und Saudi-Arabien viel Geld werden einsetzen müssen, um ihre | |
| jeweiligen Einflussgebiete lebensfähig zu halten. Das könnte einen | |
| beruhigenden Effekt auf den Konflikt beider Mächte im Nahen Osten haben. | |
| Nicht die Niederlage einer Seite, sondern eine beide betreffende | |
| finanzielle Dauerbelastung könnte sie zur Beendigung des | |
| Hegemonialkonflikts motivieren. | |
| Jedenfalls ist das eine Möglichkeit; die andere ist indes, dass die | |
| Kontrahenten gerade die militärische Konfrontation suchen. Das hätte | |
| verheerende Folgen, auch für die Weltwirtschaft. In jedem Fall lässt sich | |
| aus dem Verlauf des Syrienkrieges lernen, dass sich die Weltordnung keine | |
| Machtvakuen leisten kann. Das aber heißt, dass ein noch so gut begründeter | |
| Interventionsverzicht, wie er im Falle Syriens von Seiten der USA und der | |
| Europäer zunächst praktiziert wurde, ein Spiel mit dem Feuer ist. | |
| 19 Mar 2016 | |
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| Herfried Münkler | |
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