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# taz.de -- Münkler über Schland-WM-Kultur: „Früher haben sie Kaugummi gek…
> Die Debatte über die Nationalelf zeigt, wie sich das deutsche
> Selbstverständnis wandelt. Der Politologe Münkler über Symbolik und
> Spieler, die nicht singen.
Bild: Das waren noch Zeiten: Testspiel Deutschland – Slowakei im Jahr 2016
taz am wochenende: Herr Münkler, wenn wir die Übertragungen aus Russland
anschauen: Was sehen wir da? Geht es bei [1][dem WM-Turnier] wirklich nur
um Sport?
Herfried Münkler: Nein, das ist eine der gern verbreiteten Behauptungen von
Sportfunktionären, die je nach Bedarf erzählen, Sport sei grundsätzlich
unpolitisch. Aber nur, wenn ihnen das in den Kram passt. Wenn es ihnen
umgekehrt in den Kram passt, dass Sport ein Brückenbauer und Überwinder
politischer Gegensätze sei, dann erzählen sie eben das. Tatsächlich sind
Nationalmannschaften Projektionsflächen für kollektiven Stolz, kollektive
Ressentiments, Ängste und derlei mehr.
Was sind dann Länderspiele – Ersatzkriege?
„Ersatzkrieg“ ist ein Wort, das in den Erzählungen der fünfziger und
sechziger Jahre eine Rolle gespielt hat: dass also das kompetitive
Verhältnis der Nationen untereinander pazifiziert worden sei.
Der Zweite Weltkrieg war damals ja noch sehr präsent.
Ja, Fußballländerspiele waren eine nichttödliche Form, kollektive
Narzissmen symbolisch auszutragen. Das Politische spielte heftig in diese
Erzählungen mit hinein. Deshalb erinnern wir frühere Länderspiele als
„Schlachten“.
Und wofür stand das „Wunder von Bern“, der deutsche WM-Titel im Jahre 1954…
Es war die große Wende – mit einer Mannschaft, in der relativ viele
ehemalige Wehrmachtssoldaten dabei waren. Die haben, wenn ich das mal so
flapsig sagen darf, im Wankdorfstadion von Bern gezeigt, dass die Deutschen
doch noch gewinnen können.
Weshalb fällt es vielen heute schwer, [2][Fußballer in der
Nationalmannschaft zu akzeptieren], die nicht so aussehen wie die Spieler
der Weltmeistermannschaft von 1954? Schon das Römische Reich hat doch
Soldaten beschäftigt, die nicht aus dem Kernland des Imperiums kamen.
Selbst der Nationalsozialismus hat in den in Europa aufgestellten
SS-Divisionen andere für sich kämpfen lassen. Die härtesten Verteidiger
waren im April 1945 dann genau diese, denn sie wussten, dass es für sie
keine Rückkehr mehr gab; für sie gab es eigentlich nur den Tod. Wenn man in
die Geschichte des Fußballs schaut, kann man sagen: Nach 1998 gab es in
Deutschland einen Stimmungswandel im Hinblick auf jene, deren Eltern erst
in unser Land eingewandert waren.
Lag das auch an der ersten rot-grünen Regierung?
Nein, das Ereignis, auf das ich hinweisen möchte, fand einige Monate vorher
statt. Die Fußball-WM fand damals in Frankreich statt – und der Gastgeber
gewann mit seiner Équipe. Deutschland stellte dann mit einem gewissen Neid
fest, dass die französische Nationalmannschaft, die ja gewissermaßen das
alte französische Kolonialreich abbildete, sehr erfolgreich war, während
die biodeutsche Fußballmannschaft sich eher peinlich geschlagen hatte.
Der DFB änderte aus purer Not und Erfolglosigkeit seine Wahrnehmung?
In der Tat. 2006, 2010 und 2014 machten dann sehr viel mehr her. Diese
Mannschaften waren gewissermaßen eine Neuerfindung des deutschen Fußballs.
Sie waren eine Widerspiegelung der Vorstellung von gelingender Integration.
Und die Fußballmannschaft brachte das symbolisch zum Ausdruck.
Und der Erfolg kam zurück.
Ja, die Deutschen wurden [3][schließlich 2014 Weltmeister]. Nun gibt es
aber seit 2016 fußballerisch Probleme. Und Alexander Gauland hat dann
Jérôme Boateng als guten Fußballspieler charakterisiert, den man aber
[4][nicht als Nachbarn haben wolle]. Eine Äußerung, wie sie sonst
antisemitischer Art sind. Und eine Äußerung, die die große Idee von AfD,
Pegida und klassischen Rechtsradikalen kenntlich macht: ein Projekt der
Remigration einzuleiten, anstatt die Ankömmlinge, und mögen sie die Kinder
oder Enkel von Migranten sein, möglichst gut zu integrieren.
Warum fällt es sogenannten Biodeutschen schwer, zu akzeptieren, dass nun
Mesut, Ilkay oder Jérôme auch deutsche Vornamen geworden sind?
Hinter diesen Schwierigkeiten steckt das Projekt, unsere
Einwanderungsgeschichte zu leugnen. Die Geschichte der alten Bundesrepublik
zu verstehen heißt, sie als Einwanderungsland zu begreifen. Nicht mit neuen
Bürgern aus dem Osten Europas – das war Deutschland seit dem Beginn der
Industrialisierung, sondern nun mit neuen Bürgern aus dem Süden, erst aus
Italien, dann aus Spanien, Jugoslawien und der Türkei. Eine
Nationalmannschaft, die auf diese Ressourcen baut, ist, wenn sie Erfolg
hat, eine Werbung für eine postmigrantische Gesellschaft.
Die die AfD kategorisch ablehnt …
Deshalb agieren sie auf der symbolischen Ebene gegen Spieler mit Vornamen
wie Jérôme oder Ilkay oder Mesut. Wenn diese dann fußballerisch keinen
guten Tag haben, wird das ausgenutzt – [5][und sie werden zu Sündenböcken].
Aber es gab doch in den vergangenen Jahren schon Debatten über diese
Spieler, weil manche von ihnen bei der Nationalhymne nicht mitsangen. 1974
spielte das Mitsingen noch gar keine Rolle.
Mit dem Ende der Teilung Deutschlands 1990 hat sich etwas geändert, auch
durch das Anschauen anderer Nationen, bei denen man gesehen hat: Die singen
die Hymne mit, die legen die Hand aufs Herz oder machen andere Gesten. Das
war der zunehmende Bedeutungsgewinn von Symbolik nach dem Iconic Turn, also
der Abwendung von der wesentlich über Texte vermittelten Struktur unserer
Wahrnehmung durch ein sehr viel stärker bildhaftes Erfahren.
Wie wirkte sich das aus?
Im Zuge dessen ist es üblich geworden, dass die Kameras ganz nah an die
Spieler während der Nationalhymnen herangehen und die Leute einzeln
abschreiten. So wird genau sichtbar, was die da machen. Früher haben sie
halt Kaugummi gekaut und auf diese Weise versucht, ihre Nerven unter
Kontrolle zu bekommen. Jetzt sieht man, dass manche religiöse Zeichen
machen. Bei Lateinamerikanern und Afrikanern sieht man ja häufig, dass sie
das Kreuz schlagen, gelegentlich sieht man auch muslimische Zeichen, aber
sehr viel seltener.
Regt Sie das nicht auf, diese Aufladung des Auftakts mit den Hymnen und der
Kontrolle, ob Spieler mitsingen?
Nein, das regt mich nicht auf. Ich würde ja sagen, die Zurschaustellung von
religiösen Zeichen ist Blasphemie auf dem Fußballplatz. Aber wenn einer ein
Tor schießt und sich danach bekreuzigt – was man häufig sieht –, dann wü…
ich sagen: Das gehört halt auch irgendwie zu pluralistischen Gesellschaften
mit einer starken Veralltäglichung von allen möglichen eigentlich sakralen
Gesten dazu. Möglicherweise kommen wir auf den Gedanken, so etwas möchten
wir auch sehen. Ich weiß ja nicht, ob Markus Söder demnächst bei Bayern
München auf die Idee kommt, dass die Spieler, wenn sie ein Tor schießen,
sich hinterher bekreuzigen sollen.
Warum hadern viele mit der deutschen Hymne? In den USA, wo Linke
selbstredend Patrioten sind, ist es gerade das Ziel von Migrant*innen,
einmal in einem US-Team die Nationalhymne zu intonieren.
Die harmlose These würde sagen: Das Mitsingen ist der Wunsch nach dem
Gleichsein unter anderen, nichts Besonderes sein zu wollen. Wenn man den
Deutschen lange vorgeworfen hat, sie wollten was Besonderes sein, dann ist
das Mitsingen der eigenen Hymne ein Zeichen von „Wir wollen ein Volk sein
wie jedes andere auch“. Das wäre unproblematisch. Ich möchte der Frage der
Nationalhymne aber auch nicht dieses Gewicht beilegen, zumal wenn man sich
da noch mal die Hymnentexte anschaut. Es gibt ja teilweise sehr
blutrünstige und bellizistische Hymnen – die französische etwa. Verglichen
mit dieser haben die Deutschen eine sehr melodische und friedliche. Der
Text, jedenfalls die dritte Strophe, ist gar nicht aggressiv. In relativ
vielen Liedern wird das Blut und was auch immer man für das Vaterland geben
will, besungen. Das findet sich in der deutschen Hymne nicht, und deswegen
finde ich das eine durchaus mitsingenswerte Hymne.
Bei Spielern mit migrantischem Hintergrund …
… wäre das jetzt, wenn sie selbst nicht singen wollen, eine erzwungene
Symbolik, gegen die sie doch gern ihre eigene Anständigkeit bewahren
möchten. Sie werden durch das Kollektiv, für das sie Fußball spielen, in
eine Rolle hineingedrängt, zu einem Zwangsbekenntnis getrieben. Ich kann
verstehen, dass sie da eher wenig Lust haben, auf Befehl mitzusingen.
Wem drücken Sie eigentlich die Daumen? Hatten Sie in der Vorrunde wie ein
Patriot selbstverständlich der deutschen Mannschaft die Daumen gedrückt?
Wenn die jetzt richtig schlecht sind, dann bin ich nicht unbedingt einer,
der mit ihnen fiebert, aber normalerweise ist das schon so. In die Zeit
meines Lebens fallen insgesamt vier Gewinne der Fußballweltmeisterschaft,
ich hätte nichts dagegen gehabt, wäre ihnen das zum fünften Mal gelungen,
weil sie dann mit den ultraeitlen Brasilianern gleichgezogen hätten.
Und nach dem deutschen Ausscheiden: Welchem Team gehören jetzt Ihre
Sympathien?
Das entscheidet sich bei mir in den ersten 15 bis 20 Minuten, wenn ich dann
sage: Die spielen aber wirklich gut. Dann gibt’s natürlich immer die
Relationierung zwischen dem tatsächlichen Spielverlauf und dem, was man
gerecht nennt – also wer spielt welche Chancen heraus? Und da bin ich ein
Anhänger von Gerechtigkeit. Jedenfalls habe ich da eher Sympathien für die
Mannschaft, die das schönere Spiel oder das weniger faule Spiel betreibt,
die offensiver spielt und nicht grundsätzlich nur aus der Defensive agiert.
Das sind eher ästhetische Präferenzen, die man da hat.
8 Jul 2018
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## AUTOREN
Jan Feddersen
Jürn Kruse
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