# taz.de -- Die Fußball-WM ist populär wie nie: Das globale Prinzip Hoffnung | |
> Fußball hat es geschafft, überall hip zu sein. Er ist die Hoffnung, dass | |
> auf die komplexen Probleme dieser Welt eine einfache Lösung wartet. | |
Bild: Gibt es einen Fußballgott? Betet Paul Pogba ihn an? | |
Tip, tip, tap. Die WM tröpfelt gerade aus wie ein etwas lecker Wasserhahn. | |
Kaum mehr Spiele, nur hier und da ein Tropfen, und man ahnt, dass die | |
Halbfinale die Höhepunkte gewesen sein könnten, das Finale und sowieso das | |
Spiel um den dritten Platz sind ja meist keine fußballerischen Höhepunkte | |
eines Turniers. Aber noch im Auströpfeln ist da die Schönheit, wenn der | |
Franzose Kylian Mbappé mühelos den Ball mit der Hacke streicht und auf | |
seinen Teamkollegen Olivier Giroud legt … tip, tip, tap, ein Bild, das | |
innere Befriedigung auslöst, wenn der Ball wie magnetisch angezogen | |
zwischen den Belgiern lief. | |
Guter Fußball hat etwas, was enorm zufriedenstellt. Wie diese Reddit-Videos | |
mit dem Titel „Oddly Satisfying“ seltsam zufriedenstellend. Das sind dann | |
gut funktionierende Staubsauger oder perfekt in Parklücken passende Pkws, | |
und im Idealfall staunt man, dass etwas so einfach Ordnung schafft. Drei | |
Vertikalpässe hebeln Titelträume aus. Ginge nur die EU so einfach. | |
Ist es am Ende der Fußball selbst, der es macht, dass wir nicht von ihm | |
lassen können? Dazu eine Geschichte vom Anfang des Turniers. | |
[1][Als das DFB-Desaster seinen Anfang nimmt], als Thomas Müller wild heult | |
und Jogi Löw in die Katakomben flüchtet, schreibt Sami eine Nachricht im | |
Facebook-Messenger. „Ich bin traurig mit Deutschland“, in der beherzten | |
Mischung aus Spanisch und Portugiesisch, die er sich beigebracht hat. Sami, | |
ein langjähriger Bekannter aus Tunesien, bewundert den, der gut spielt, in | |
einer entspannten, globalen Logik. Er hält zum FC Bayern oder zu Barca oder | |
Ronaldo, und seit den jüngsten Erfolgen der DFB-Elf zu Deutschland. So ein | |
schulterzuckend weltumspannender Fußballblick, der mit der Globalisierung | |
kommt. | |
Sami weiß ja, dass er Tunesien spätestens ab dem Achtelfinale vergessen | |
kann. Er mag die Tricks und den Glanz und die Autos und die Macho-Attitüde | |
der großen Stars, und er würde lachen über jemanden, der ihm den SV | |
Babelsberg schmackhaft machen will, und Fußball heißt auch, dass man so | |
unterschiedliche Dinge darin sehen kann und das funktioniert. | |
Als im [2][Norden Thailands zwölf Jungen und ihr Trainer in einer Höhle | |
vermisst wurde], war ganz unwahrscheinlich, dass man sie findet. Nach neun | |
Tagen entdeckten Taucher sie – und zu den ersten Fragen der Jungen gehörte: | |
Wie steht es mit der WM in Russland? Und das in Thailand, Generationen | |
entfernt auch nur von der Chance, sich für ein globales Turnier wie eine WM | |
zu qualifizieren: Wer wirklich Fußball liebt, verstand den | |
Informationswunsch der glücklich Gefundenen unmittelbar. | |
## Worüber würden Fremde im Zug reden? | |
Fußball, das zeigt auch dieses Beispiel, ist auch in vielen Ländern | |
beliebt, die sportlich weit entfernt sind von global respektierter | |
Kompetenz. Die Fifa lud die (zu diesem Zeitpunkt noch nicht) Geretteten | |
nach Russland ein. Was den einen wie eine Promotionaktion vorkam, machte | |
die Jungen: glücklich. | |
Es ist unpopulär geworden, den globalen Fußball zu besingen, weil man sich | |
verdächtig macht, die Fifa zu loben oder den Kapitalismus. Dabei haben | |
beide Faktoren auch Bemerkenswertes geschaffen. Fußball ist das erste und | |
weitgehend einzige Ding, das weltweit funktioniert. Nicht das letzte | |
gemeinsame globale Lagerfeuer, wie gern behauptet, sondern das erste. | |
Worüber sonst würden Fremde im Zug reden? Über Filme, Lieblingsbands, | |
Bücher? Das würde in weiten Teilen der Welt nicht mal mit „Harry Potter“ | |
oder Justin Bieber klappen. | |
Aber frage einen fast beliebigen Mann auf diesem Planeten nach seinem | |
internationalen Lieblingsverein, und es entsteht ein Gespräch. Jeder hat | |
einen Premier-League-Club, zumindest fast jeder. Dass Russen, die teils | |
keinen Schimmer von Fußball hatten, jetzt die Weltmeisterschaft feiern, ist | |
nur marginal erstaunlich. [3][Fußball kann auch Russland]. Aber warum? | |
Manchmal heißt es, Fußball ist leicht. Es braucht einen Ball oder eine Dose | |
oder ein Lumpenbündel, und das reicht. Es geht um ein Tor, und jeder hat | |
das nach zwei Minuten kapiert, und natürlich ist das richtig. Aber es ist | |
nicht die ganze Wahrheit, denn Sprint ist ja auch leicht, und Handball, | |
Basketball, Volleyball erfordert auch nicht wirklich mehr als einen Ball. | |
Fußball hat mehr als Leichtigkeit: er hat eine Einfachheit des | |
Komplizierten. | |
Beim 100-m-Lauf gewinnt die Person, die am schnellsten rennt, und zwar | |
immer. Aber der Fußball, der Gewiefte, eröffnet dem finanziell | |
Benachteiligten, ergo dem zu erwartenden Verlierer, Möglichkeiten, immer | |
aufs Neue trotzdem zu siegen, durch taktische Variation, kluges | |
Verschieben, schnelle Konter, gnadenlose Deckung oder unverschämtes Glück. | |
Er ist gewissermaßen die Hollywoodisierung des Sports, ein natürlicher | |
Richard Gere, der die Wendeltreppe hochkommt, wenn man nur klug genug ist, | |
die Wendeltreppe zu finden. So, vermute ich, würde Fußball sich selbst | |
erzählen. | |
## Gibt es einen Fußballgott? | |
Aber wahrscheinlich muss man Fußball auch ganz anders erzählen. Er kommt | |
zum Ruhm wie die Europäer zum Geld, glücklich, durch eine Reihe | |
historischer Zufälle, die er dann sich selbst zuschreibt. Denn er | |
verbreitet sich in England am Höhepunkt des britischen Kolonialreiches. Er | |
kommt mit den Menschen in die Kolonien, in beinahe jeden Winkel der Erde. | |
An die afrikanische Westküste mit den Eroberern, nach Korea über ein | |
britisches Kriegsschiff, nach Argentinien mit britischen Migranten, davon | |
zeugen bis heute argentinische Clubnamen wie River Plate oder Newell’s Old | |
Boys. | |
Und es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass, wäre Großbritannien | |
damals eine Tischtennisnation gewesen, wir heute Putins Tischtennis-WM | |
schauen würden. | |
Fußball ist der erste konsequent globalisierte Sport und der letzte Zeuge | |
des britischen Empire. Er ist damit der natürliche Boden für die | |
neoliberale Explosion, für Pay TV und Entertainment. Und doch gibt es | |
Ecken, in denen er nie ankommt. Die USA haben über Jahrzehnte vergeblich | |
und mit viel Geld versucht, Männerfußball zum Nationalsport zu machen. | |
Der eigene Markt ist gesättigt, und es wäre überraschend, wenn die | |
WM-Ausrichtung im Jahre 2026 Grundlegendes daran ändern würde. Mit den USA, | |
Kanada und Katar sind gleich drei kommende Ausrichter Fremdlinge des | |
Fußballs. | |
Aber gibt es so was? Einen Fußballgott, der sagt: Du, du und du, ihr seid | |
Fußballnationen und ihr da drüben eben nicht? Dazu vielleicht eine Anekdote | |
über Dettmar Cramer in Japan. | |
In Japan spielte Fußball, man mag es heute kaum glauben, historisch fast | |
keine Rolle. Japan war eine Baseballnation. Dann kamen die Olympischen | |
Spiele 1964 in Tokio, und die Politik hatte ein gewisses Interesse daran, | |
dass man sich auch fußballerisch nicht blamierte. Man engagierte also den | |
Deutschen Dettmar Cramer als Coach. Und der führte die Japaner | |
unglaublicherweise bis ins Viertelfinale, wobei man unter anderem | |
Argentinien schlug. Das führte zu einem nationalen Boom, und so wurde | |
Japan zur Fußballnation. | |
## Fußball ist überall hip | |
Fußballkultur ist also formbar, wenn auch nicht zwangsläufig. Und Fußball | |
ist trotz der irren Gelder mit einem Hauch Anarchie versehen. Es gab vor | |
diesem Turnier eine Untersuchung über Staatsoberhäupter und deren Vorliebe, | |
sich mit der Ausrichtung einer WM zu schmücken. Sie kam zu einem | |
interessanten Schluss: Die Mehrheit der Oberhäupter verlor die | |
anschließende Wahl oder wurde gestürzt. Dass Fußball der Karriere | |
förderlich sei, ließ sich also zumindest statistisch nicht untermauern. | |
Dafür war er zu groß. | |
Golf und Tennis sind öffentlich immer Oberschicht geblieben, Boxen oft | |
Unterschicht. Fußball hat es geschafft, ein Image der Klassenlosigkeit zu | |
kreieren. Er ist überall hip. Das viele Geld gab Arbeiterkindern die | |
Chance, sich dem Fußball zu widmen, auch das brachte Teilhabe. Er schuf | |
Perspektiven des sozialen Aufstiegs, und weil der Sport die Massen bewegte, | |
formten sich Mitsprache und Proteste, die in Randsportarten kaum möglich | |
wären. | |
Natürlich ist vieles dabei ungerecht. Der Spitzenfußball der WM ist | |
zeitlebens eine Privatveranstaltung der Europäer plus einer Handvoll | |
Südamerikaner geblieben. Er ist hässlich und unfair und aufgebläht, es gibt | |
Korruption, Doping, Rassismus, dieses und jenes und noch viel mehr. Aber | |
deshalb umdrehen und gehen? Was wäre das für ein Umgang mit der Welt? | |
Vielleicht hilft es, als Bayern-Fan aufgewachsen zu sein, mit Steuer-Uli | |
und Rolex-Kalle; da reibt man sich nicht plötzlich verdattert die Augen, | |
wie ungerecht dieses Leben ist. Und so ist Fußball wahrscheinlich | |
essenziell die Hoffnung. Die Hoffnung, dass der nächste Tag besser wird als | |
dieser, dass die nächste Fifa besser wird als diese, das nächste deutsche | |
Spiel besser als das gegen Südkorea. | |
Die Hoffnung, dass auf die komplexen Probleme dieser Welt eine einfache | |
Lösung wartet, [4][wenn Kylian Mbappé den Ball mit der Hacke zu Olivier | |
Giroud durchschiebt], wie Dienstagabend im Strafraum vor dem belgischen | |
Tor. Tip, tip, tap. Und Giroud vorbeischießt. | |
14 Jul 2018 | |
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## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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