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# taz.de -- Russland, Fußball-WM und Repression: Hier das Stadion, dort die St…
> Russland ist im WM-Fieber, die Fans sind begeistert. Doch hinter den
> glänzenden Fassaden geht die Repression gegen Andersdenkende weiter.
Bild: Ein Trikot mit der 11 für Putin, Haft für 156 politische Häftlinge
Moskau taz | Russland hat Spaß. [1][Die Fußball-WM] ist ein riesiger
Erfolg. Hunderttausend frohgemute Besucher strömen durch das Land. Täglich
schwärmen sie in russischen Medien, wie großartig Russland doch sei. Wie
falsch hingegen das Bild, das die ausländische Presse von Land und
Gastgeber bislang zeichnete.
Die Ausgaben für das Großereignis haben sich gelohnt. Die Imagekorrektur
wäre mit Werbekampagnen allein nicht möglich gewesen. Selbst Polizisten
lassen sich von der guten Stimmung mitreißen und streifen für einen Moment
den strafenden Blick des russischen Ordnungshüters ab.
Verändert hat sich unterdessen wenig. Die Behörden halten für die Zeit der
WM nicht einmal den olympischen Frieden ein. Vor den Winterspielen 2014 war
dies noch anders: damals entließ der Kreml den Häftling und Öl-Oligarchen
Michail Chodorkowski aus zehnjähriger Lagerhaft. Auch die Frauen der
[2][Politpunkband Pussy Riot], die wegen Verbreitung religiösen Hasses
einsaßen, durften das Lager verlassen.
Zurzeit hat es den Anschein, als würden die Schrauben gegen Andersdenkende
angezogen. Die Maßnahmen sind vielseitig: Einschüchterungen, vorübergehende
Festnahmen, Lizenzentzüge für unabhängige Lehranstalten bis zu
Gefängnisstrafen wegen angeblich extremistischer Posts in den sozialen
Medien. Die Liste ist lang. Der Oppositionelle Wladimir Kara-Murza geht von
156 politischen Häftlingen aus, das sind mehr als in der Endphase der
Sowjetunion.
## Zwei Jahre Strafkolonie
Nach einer Aufführung wurden am vergangenen Mittwoch neun Mitarbeiter des
Dokumentartheaters [3][Teatr.doc] von der Polizei in Gewahrsam genommen. Am
nächsten Tag durften sie die Polizeistation wieder verlassen, ohne dass
ihnen ein Grund für die Festnahme genannt wurde.
Das unabhängige Theater ist den Machthabern seit Langem ein Dorn im Auge.
Mit Aufführungen über die Anti-Putin-Proteste im Mai 2012 auf dem
Bolotnaja-Platz in Moskau oder einem Stück zu „Folter 2018“ dokumentiert
die Bühne aktuelles Zeitgeschehen.
Auch Posts in den sozialen Medien werden häufiger gerichtlich verfolgt.
Soeben wurde in Kaliningrad der Taxifahrer Alexander Petrowsky zu zwei
Jahren Strafkolonie verurteilt. Er soll auf dem Messenger-Dienst Telegram
extremistische Äußerungen verbreitet haben. Der Eintrag sei aus dem
Zusammenhang gerissen, behauptet sein Anwalt.
Nicht selten werden politische Aktivisten auch wegen der Teilnahme an
Protesten verurteilt, obwohl sie nicht vor Ort waren. Das widerfuhr dem
Anarchisten Dmitri Butschenkow. Er wurde Ende 2015 festgenommen, weil er im
Mai 2012 an der Anti-Putin-Demonstration auf dem Bolotnaja-Platz
teilgenommen haben soll. Anderthalb Jahre saß er in Untersuchungshaft,
danach im Hausarrest.
Erst jetzt wurde bekannt, dass ihm die Flucht nach Litauen gelang. Parallel
lief in Moskau gegen ihn ein Prozess, der mit einem Schuldspruch geendet
hätte. Das Gericht ließ nicht gelten, dass er im Mai 2012 gar nicht in
Moskau gewesen war. Der Europäische Gerichtshof sprach ihm inzwischen eine
Entschädigung zu.
## Prozess gegen den Vorsitzenden von Memorial
Wenn die russische Justiz Anklage erhebt, gibt es für die Betroffenen kaum
ein Entrinnen. Nur ein Bruchteil von 0,3 Prozent der Prozesse endet in
Russland mit einem Freispruch. Die Strafverfolgungsbehörden sehen es als
ihr Privileg an, Verdächtige nicht nur zu verurteilen, sondern
abzuurteilen. In dieser Logik wäre ein Freispruch eine Niederlage. Die
Beweisführung wird so gedreht, dass der Angeklagte schuldig ist und die
Erfolgsstatistik nicht schmälert.
Prominentester Fall ist der Prozess gegen den Historiker Juri Dmitrijew,
den Vorsitzenden der Menschenrechtsorganisation Memorial in Karelien.
Dmitrijew wurde 2016 wegen des Verdachts der Pädophilie festgenommen. Die
achtjährige Adoptivtochter hatte er unbekleidet fotografiert, um ihre
Entwicklung gegenüber dem Jugendamt zu dokumentieren. Unabhängige Experten
bestätigten, dass es sich nicht um pornografische Fotos handelte und die
Aufnahmen medizinischen Zwecken dienten. Die Fotos waren auch nicht
verbreitet worden. Nach anderthalb Jahren sprach ihn ein Gericht frei.
Viele Honoratioren hatten sich für den 62-Jährigen eingesetzt.
Der Historiker entdeckte 1997 die Massengräber von Sandomorch. Dort hatte
der NKWD, Vorgänger des KGB, 1937 Tausende Gefangene hingerichtet, darunter
viele Vertreter der ukrainischen Intelligenz.
Im April sprach ihn ein karelisches Gericht frei. Am Eröffnungstag der WM
kassierte dasselbe Gericht das Urteil allerdings wieder und die
Staatsanwaltschaft erhob erneut Anklage. Wieder geht es um „ gewalttätige
Handlungen sexuellen Charakters“ gegenüber der Tochter. Sollte Dmitrijew
verurteilt werden, drohten 15 Jahre Haft.
## Akademische Einrichtungen im Visier
Der Menschenrechtler widerspricht dem Kreml-Entwurf einer erfundenen
Geschichte und beweist Mut, die staatlich begangenen Verbrechen ans Licht
zu holen. Damit stellt er sich in heutiger Wahrnehmung wieder gegen das
Kollektiv.
Ähnlich geht es Oyub Titijew, dem Leiter Memorials in Tschetschenien. Der
60-Jährige war im Januar festgenommen worden. Die tschetschenische Polizei
fand in seinem Wagen 180 Gramm Marihuana. Diese seien ihm untergeschoben
worden, behauptet er. Auch die Kollegen und Tatjana Lokschina, Leiterin von
Human Rights Watch, halten den Fall für konstruiert. Republikchef Ramsan
Kadyrow würde sich gerne des Memorialbüros vor Ort entledigen. Titijew wies
dem Sultan von Grosny massive Menschenrechtsverletzungen nach. Diese Woche
verlangte Titijew, die Gerichtsverhandlung an einen Ort außerhalb
Tschetscheniens zu verlegen. Der Prozessbeginn wurde auf nächste Woche
verschoben. Noch ist nicht klar, wo die Verhandlung stattfindet.
Auch der [4][ukrainische Regisseur Oleg Senzow] ist politischer Häftling.
Seit zwei Monaten befindet er sich im Hungerstreik und fordert die
Freilassung von 64 in Russland eingekerkerten Landsleuten. Bislang sträubte
sich der Kreml, den Filmemacher auszutauschen. Er war wegen vermeintlich
terroristischer Anschläge zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt worden.
Unter den Häftlingen ist auch Wolodomir Baluch. Er erhielt im letzten Jahr
eine vierjährige Gefängnisstrafe. Sein Vergehen: In Simferopol stellte er
im Hof eine ukrainische Fahne auf und montierte eine Gedenktafel für die
Opfer des Aufstands auf dem Maidan 2014 in Kiew. Die Polizei will bei ihm
Waffen und Munition gefunden haben. Seine Mutter trat in den Hungerstreik.
Das sind nur repressive Momentaufnahmen. Das tatsächliche Ausmaß reicht
tiefer. Die krimtatarische Minderheit ist permanenter Drangsalierung auf
der Halbinsel ausgesetzt.
Ein Schlaglicht, wohin es gehen könnte, wirft das Vorgehen gegen
akademische Einrichtungen. Der russisch-englischen Moscow School of Social
and Economic Sciences wurde vergangene Woche die Akkreditierung entzogen.
Die renommierte Europäische Universität St. Petersburg verlor die
Lehrlizenz bereits 2017. Hochburgen des westlichen Denkens werden
geschleift.
7 Jul 2018
## LINKS
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## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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