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# taz.de -- Politische Justiz in Russland: Der Tod ist kein Spiel
> Der in Sibirien inhaftierte ukrainische Dokumentarfilmer Oleg Senzow
> befindet sich seit 36 Tagen im Hungerstreik. Der Fall belastet Wladimir
> Putins WM.
Bild: „Rettet Oleg Senzow!“ Demonstration der russischen Opposition am 10. …
Der Jubel der russischen Fans kannte keine Grenzen, als ihre
Nationalmannschaft Saudi-Arabien am vergangenen Donnerstag beim
WM-Eröffnungsspiel in Moskau mit 5:0 vom Platz fegte. Wie von Präsident
Wladimir Putin verordnet, läuft bislang alles nach Plan – sogar für die
Sbornaja, für die dennoch spätestens nach dem Viertelfinale Schluss sein
dürfte.
Doch es gibt da jemanden, der das rauschende Fußballfest empfindlich stören
könnte: der ukrainische Filmregisseur Oleg Senzow. An diesem Montag ist der
41-Jährige, der in einem Lager in der westsibirischen Siedlung Labytnangi
hinter dem Polarkreis einsitzt, seit 36 Tagen im Hungerstreik. Er will
damit die Freilassung von mehr als 60 in Russland inhaftierten Ukrainern
erreichen.
Senzow wurde auf der ukrainischen Halbinsel Krim geboren. Vor der
Protestbewegung „Euromaidan“, die im Februar 2014 mit dem Sturz des
damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch endete, war er einer
breiteren Öffentlichkeit unbekannt.
Nach Russlands völkerrechtswidriger Annexion der Krim begann sich Russlands
Staatsmacht verstärkt für Senzow zu interessieren. Denn dieser wandte sich
gegen die Zwangseinbürgerung, definierte sich weiter als ukrainischer
Staatsbürger und unterstützte offen die ukrainische Armee in ihrem Kampf
gegen die von Moskau unterstützten pro-russischen Rebellen im Osten der
Ukraine.
2014 wurde Senzow vom russischen Inlandsgeheimdienst unter dem Vorwurf des
Terrorismus festgenommen. Ein Jahr später begann ein Schauprozess, der
groteske Züge annahm und an stalinistische Zeiten erinnerte.
## Sprengung geplant
Laut Staatsanwaltschaft soll Senzow einen Brandanschlag auf das örtliche
Büro der Putin-Partei Vereintes Russland verübt und die Sprengung eines
Lenin-Denkmals sowie eines Denkmals für im Zweiten Weltkrieg gefallene
Soldaten geplant haben. Zudem sei er Mitglied der Milizen der
pro-ukrainischen Paramilitärs der rechtsextremen Partei Prawij Sektor
(Rechter Sektor).
Die Beweislage war dünn – wie üblich in Russland, wenn es darum geht,
politische Gegner kaltzustellen und einen Präzedenzfall mit möglichst
abschreckender Wirkung zu schaffen.
Die Anklage stützte sich vor allem auf Aussagen von zwei „Mittätern“. Ein…
widerrief sein Geständnis und gab an, von der Polizei gefoltert worden zu
sein – ein Vorwurf, den Senzow auch bezüglich seiner eigenen Person erhob.
Doch das alles interessierte das zuständige Gericht in der südrussischen
Stadt Rostow am Don nicht. „20 Jahre Haft“ lautete das Urteil. Eine
Revision von Senzows Anwälten wurde im Herbst 2015 von Russlands Oberstem
Gericht verworfen.
Nach anfänglicher Inhaftierung in Jakutien wurde Senzow verlegt – an einen
Ort, rund 5.000 Kilometer von seiner Heimat entfernt. Auch das ist in
Russland ein beliebtes Mittel, um einen Gefangenen zu demütigen und zu
brechen.
Doch diese perfide Rechnung geht bei Senzow, dem auch viel internationale
Unterstützung zuteil wird, nicht auf. Er ist bereit, seine Aktion bis zum
Ende durch zu ziehen, auch wenn ihn das sein Leben kosten sollte.
## Austausch abgelehnt
Derzeit wird viel darüber spekuliert, ob Senzow vielleicht gegen einen der
in der Ukraine inhaftierten Russen ausgetauscht werden könnte. Doch diese
Möglichkeit lehnte Präsident Wladimir Putin erst in der vergangenen Woche
ab.
Eine Absage kassierte auch die ukrainische Ombudsfrau für Menschenrechte,
Ljudmilla Denisowa. Ihr sei ein Besuch Senzows ohne Angabe von Gründen
verweigert worden, teilte sie in einer Videobotschaft auf Facebook mit.
Vielleicht hat diese jüngste Zurückweisung auch dazu beigetragen, dass das
Schicksal Senzows jetzt auch die Vereinten Nationen beschäftigen wird. Die
USA, Frankreich, Großbritannien und 35 weitere Staaten haben sich an
UN-Generalsekretär António Guterres mit der Forderung gewandt, zu
vermitteln. Guterres wird in der kommenden Woche nach Russland reisen, um
dort Gespräche mit Putin zu führen und sich das Spiel Portugal gegen
Marokko anzusehen.
Bei dem Tête-à-Tête mit Putin sollte es jedoch nicht nur um Senzow gehen.
Besonders die Krimtataren, die 1944 unter Stalin zu Hunderttausenden
deportiert wurden und in Viehwaggons zugrunde gingen, werden fast täglich
Opfer staatlicher Repressionen.
Die Krim sei ein schwarzes Loch. Dort könne wer auch immer verschwinden –
egal ob Aktivist oder nur ein zufälliger Gast, zitiert das ukrainische
Nachrichtenportal Zerkalo Nedeli (Wochenspiegel) Menschenrechtler, die die
Entwicklung dort verfolgen.
„Was bleibt, ist, sich gegen die Gleichgültigkeit zu stemmen, nicht
zuzulassen, dass die politischen Gefangenen in Russland vergessen werden,
wie dies seinerzeit den sowjetischen Gefangenen widerfuhr, zu verhindern,
dass ihre Schicksale in der Flut der negativen, lähmenden Nachrichten aus
aller Welt untergehen“, schreibt die ukrainische Kulturwissenschaftlerin
Kateryna Botanova in einem Gastbeitrag für die Neue Zürcher Zeitung.
Diese Gefahr ist nicht zu unterschätzen, jetzt, da die Welt zu Gast bei
Putin ist und für viele in den kommenden Wochen lediglich eins zählt: dass
der Ball rollt. Im Kampf um die wichtigste Fußballtrophäe läuft der
Countdown. Für Senzow könnte er schon bald zu Ende sein.
19 Jun 2018
## AUTOREN
Barbara Oertel
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