# taz.de -- Erzählungen von Oleg Senzow: Routinen und Drill, klebrig-zäh | |
> Oleg Senzow sitzt seit bald fünf Jahren in russischer Haft. Nun sind | |
> seine teils autobiografischen Erzählungen auf Deutsch erschienen. | |
Bild: Der Regisseur Oleg Senzow 2010 | |
„Die Kindheit ist vorbei, sie wohnt nicht mehr hier. Die Orte sind | |
dieselben und die Leute eigentlich auch, aber trotzdem ist alles anders.“ | |
Mit diesen Worten beschreibt Oleg Senzow die Rückkehr in das Dorf auf der | |
Krim, in dem er in den achtziger Jahren aufwuchs und das er nun, 15 Jahre | |
nachdem er es verlassen hat, wieder besucht. Er denkt zurück an seine | |
Kindheitstage, an die einstigen Spielkameraden: Makar, Sanja, Taxik, Lelja, | |
Oleg, Barsuk und Belan. Und daran, was aus ihnen geworden ist: Einer ist in | |
der Sekte gelandet, der andere hat sich „dem Suff ergeben“, ein dritter | |
„hat geheiratet und ist fett geworden, macht aber immer noch seine Witze“. | |
Erstmals sind Erzählungen des ukrainischen Filmregisseurs Oleg Senzow, der | |
seit fünf Jahren in russischer Haft sitzt, in deutscher Sprache erschienen. | |
„Leben“ heißt der Band, der acht miniaturartige Geschichten Senzows | |
versammelt, allesamt vor seiner Haftzeit entstanden. Der eingangs zitierte | |
Satz – „Die Orte sind dieselben, (…) trotzdem ist alles anders“ – gilt | |
dabei für die Krim längst in politischer Hinsicht. Wobei das persönliche | |
Schicksal des 1976 auf der Halbinsel geborenen Autors eng mit den jüngeren | |
Ereignissen auf der Krim verflochten ist. | |
Oleg Senzow war Aktivist der Euromaidan- und Automaidan-Protestbewegung, | |
bis er am 11. Mai 2014 vor seinem Haus in Simferopol vom russischen | |
Geheimdienst FSB verhaftet wird – unter dem fadenscheinigen Vorwand, er sei | |
Mitglied des paramilitärischen ukrainischen „Rechten Sektors“. 2015 wird | |
Senzow – in einem Verfahren, das Amnesty seinerzeit als „stalinistisch“ | |
bezeichnet – wegen angeblichem „Terrorismus“ zu zwanzig Jahren Haft | |
verurteilt. | |
## Überraschend und sanft | |
Heute sitzt er im Straflager IK-8 (Weißer Bär) am Polarkreis ein. 2018 trat | |
er für 144 Tage in den Hungerstreik; wie es ihm aktuell geht, ist unklar. | |
Alle internationalen Proteste gegen seine anhaltende Inhaftierung haben | |
bislang nichts gebracht. | |
Wer den Menschen, das Kind und den Jugendlichen Oleg Senzow kennenlernen | |
will, der sollte dieses Buch lesen. Es ist ein leises, ein sanftes, ein | |
überraschendes Buch, denn der Autor bleibt durchgehend bei seinem Sujet | |
Kindheit – er schreibt über Kinderspiele, über die Liebe zu seinem Hund, | |
das kühle Verhältnis zu seiner Großmutter, die schulische Doktrin in der | |
UdSSR („Das sowjetische Bildungswesen machte mich fertig, diese Routinen, | |
der Drill, die klebrig-zähen Unterrichtsstunden“) und die enge Freundschaft | |
zum Nachbarjungen Makar. | |
Es ist ein teils humorvoller, teils wehmütiger Ton, den Senzow dabei | |
anschlägt: „Im Winter spielten Makar und ich sogar Eishockey, (…) [in dem] | |
Fall, dass es auf der Krim mal schneite und der Schnee noch nicht weggetaut | |
war, wenn wir aus der Schule kamen. Die Schläger lagen ein paar Jahre auf | |
dem Dachboden oder in der Rumpelkammer, bis es endlich wirklich mal | |
schneite, wunderschöner Schnee, weiß und leicht. Wir trampelten auf Makars | |
Hof ein kleines Spielfeld fest, stellten zwei Bänke als Tore auf und | |
spielten richtiges Hockey mit Puck, natürlich ohne Schlittschuhe, so eine | |
Art Schlitterhockey.“ | |
Später schildert Senzow den sozialen Abstieg jenes Makar; er erzählt in | |
klarer, einfacher Sprache, mit guter Beobachtungsgabe. Vom Genre wären die | |
Erzählungen zwischen Autobiografie und Short Story anzusiedeln, „Eine | |
literarische Autobiografie“ heißt nicht von ungefähr die abschließende | |
Geschichte. | |
## Symbol der Willkürjustiz | |
Der auf den ersten Blick beliebig klingende Titel „Leben“ geht dann doch in | |
Ordnung, denn die Geschichten setzen sich auch mit der Banalität des | |
Daseins, den Zufällen in Biografien, dem immerwährenden Alltag in der | |
Provinz auseinander. Am deutlichsten wird das in der Erzählung über seine | |
vereinsamte und mit der Zeit betreuungsbedürftige Oma, die von allen | |
Verwandten als Last empfunden wird und die schließlich ins Altersheim kommt | |
und dort fast vergessen wird. | |
Die deutsche Ausgabe des zunächst im ukrainischen Verlag Laurus | |
erschienenen Buches ist die erste fremdsprachige; bald wird es weitere | |
Ausgaben auf Englisch und Polnisch geben. Angeschoben und gefördert wurden | |
die Übersetzungen vom ukrainischen PEN-Zentrum. | |
Für viele Ukrainer ist Senzow, der 2018 mit dem | |
Sacharow-Menschenrechtspreis des Europäischen Parlaments ausgezeichnet | |
wurde, zum Symbol der russischen Ukraine-Politik und Willkürjustiz | |
geworden. Die fremdsprachigen Ausgaben helfen somit auch, seinen Fall in | |
der westlichen Öffentlichkeit zu halten und an die anderen politischen | |
Gefangenen in Russland zu erinnern (allein 76 sind es derzeit offiziell lt. | |
Memorial Human Rights Center). Aber auch unabhängig von dem politischen | |
Kontext lohnt es, dieses Buch mit seiner dichten, eindrücklichen, tief | |
schürfenden Erzählweise zu lesen. | |
21 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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