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# taz.de -- Russische Tataren und WM-Fußball: Öl und Spiele
> Kasan, Hauptstadt der Republik Tatarstan, ist multikulturell und setzt
> das auch für Werbezwecke ein. Vieles in der Stadt ist arg gewollt.
Bild: Künstler verzieren eine Hausfassade in Kasan mit dem Porträt des brasil…
Kazan taz | Der Fußballgott muss Kasan geschaffen haben. Die Stadt an der
Wolga ist wie für ein großes Turnier gemacht. Sie hat, was ein wahrer Fan
braucht: eine Fußgängerzone in der Innenstadt. Dort kann er hin und her
flanieren, so lange bis alle, auch die, die es wirklich nicht sehen wollen,
die ulkige Verkleidung gesehen haben, mit der er aus seiner Heimat
angereist ist.
Er kann sich an Imbissständen viel zu kleine Portionen des beliebten
Reiseintopfs, der sich Plow nennt, für viel zu viele Rubel kaufen. Und er
wird genug Einheimische finden, die sich mit ihm fotografieren lassen
wollen.
Und wenn er keine findet, weil seine Verkleidung dann doch nicht originell
genug ist, dann kann er sich ja einen Volunteer schnappen. Die Freiwilligen
müssen in diesen Tagen eh viel mit sich machen lassen. Oder man bleibt bei
sich, lässt sich alleine fotografieren – vielleicht sich an eine der
historisierenden Laternen lehnend.
Die Stadtführer jedenfalls sagen, die Laternen seien besonders schön.
Baumanova heißt die Meile der Fans. Sie führt vom Geschäftszentrum der
Stadt hinauf zum Kreml. Der überstrahlt die historische Stadt mit seinen
blauen Kuppeln. Es ist keine Kirche, es ist eine Moschee.
Kasan ist die Hauptstadt der Republik Tatarstan. Die Hälfte der Einwohner
sind Muslime. Und wenn der Muezzin zum Gebet ruft, ist es unüberhörbar: Der
Islam gehört zu Russland. Das Christentum natürlich auch. Und auch das
Judentum gehört dazu. 10.000 Menschen jüdischen Glaubens leben in der
Region.
## Kein Kampfbegriff
Kasan ist eine multireligiöse Stadt. Sie macht Werbung mit ihrer
Multikulturalität. Das ist hier kein Kampfbegriff. Rabbi Itzak Gorelik, der
seit der Wiedereröffnung der unweit des Kreml gelegenen Synagoge in den
90er Jahren in Kasan wirkt, beschreibt das Zusammenleben der Religionen in
der Stadt so: „Man betet nicht zusammen, aber man lässt die anderen beten.
Und wenn einmal ein Feiertag ist, dann besucht man sich.“ Das große
Fastenbrechen jüngst hat er mit dem Mufti der Republik Tatarstan Kamil
Samigullin begangen. Der hat auch schon die Synagoge besucht.
Die Fans machen die Szene in diesen Tagen noch ein wenig multikultureller.
Sie tragen ihre Farben in den Kreml. 165.000 Besucher habe der Kreml in den
ersten zweieinhalb WM-Wochen gesehen, sagt Sila Balejewa, die Direktorin
des Museumskomplexes am Kasaner Kreml – und einen ganz besonderen: Gerhard
Schöder. Ein beinahe schon verliebtes Lächeln umschmeichelt ihren Mund, als
sie von ihm spricht. Sie hat ihn persönlich über das Gelände geführt.
Der Altbundeskanzler und Putinfreund, der für die russische
Rohstoffindustrie arbeitet, wird, wo immer er in Russland auftaucht,
behandelt wie ein Staatsgast. Junge Frauen in tatarischen Trachten haben
den Ex-Kanzler am Flughafen empfangen und ihm Köstlichkeiten der Region
unter die Nase gehalten. Er durfte wichtige Hände schütteln, die von Alexej
Pesoschin zum Beispiel, dem Premier der Republik Tatarstan.
Schröder ist Aufsichtsratsvorsitzender des russischen Rohstoffkonzerns
Rosneft und Kasan ist auch deshalb reicher als die meisten anderen Städte
Russlands, weil in Tatarstan jede Menge Öl gefördert wird.
Ein wenig profitieren davon alle in der Stadt. Denn es gibt einen
funktionierenden öffentlichen Nahverkehr. Eine kleine U-Bahn mit elf
Stationen, Straßenbahnen und Linienbusse durchpflügen die Stadt nach einem
auch für Ausländer nachvollziehbaren Fahrplan. Die privaten Minibusse, die
in anderen Großstädten den Großteil des Verkehrs abwickeln, spielen hier
nur eine untergeordnete Rolle.
## Nichts aufs Taxi angewiesen
Die Fans, die nach den Spielen in den zahlreichen neuen Hostels und
Privatunterkünften auch in abgelegenen Teilen der Stadt verschwinden, sind
nicht unbedingt auf Taxis angewiesen. Das Öl finanziert auch die Spiele,
die Tatarstans Präsident Rustam Minnichanow regelmäßig in die Stadt holt.
Irrwitzige 3 Milliarden Euro wurden in den Bau von Sportanlagen für die
Universiade 2013, eine Art Studierenden-Olympia, ausgegeben. Die WM-Arena
stammt aus jener Zeit ebenso wie die Schwimmarena in unmittelbarer
Nachbarschaft.
Dass Kasan so aussehen will, als hätten hier schon einmal Olympische Spiele
stattgefunden, ist unübersehbar. Das Gesicht der Sportstadt Kasan gehört
Elmira Kalimullina. Sie ist die Stimme Tatarstans, seit sie 2013 in der
russischen Aufgabe der Castingshow „The Voice“ ins Finale gekommen war. Sie
war Botschafterin der Schwimm-WM, die 2015 in der riesigen Halle draußen
neben dem WM-Stadion stattgefunden hat.
Jetzt ist sie WM-Botschafterin, mit Leib und Seele, wie sie sagt. Als Kind
habe sie mit ihrem Bruder sogar selbst Fußball gespielt, hört, hört! Die
WM-Zeit jedenfalls findet sie aufregend. „Es sind so viele Ausländer hier,
dass ich mich fast ein wenig wie im Ausland fühle“, sagt sie.
Sie will gefallen und sie will, dass allen Kasan gefällt, möchte dass die
Fans wissen, dass es eine tatarische Sprache gibt, dass Tatarstan ein ganz
besonderer Teil Russlands ist. Für das Turnier hat sie einen Fußballsong
eingespielt, den man auf Tatarisch, Englisch und Russisch anhören kann,
wenn man auf ihre Seite beim russischen Facebook-Klon Vkontakte geht.
## Aufgemotzter Stadionrock
„Football Fans“, so der Titel der englischen Variante, ist mit arg billigen
E-Gitarren-Soli aufgemotzter Stadionrock zum Mitgrölen. Was für ein Jammer,
kann die Kalimullina doch so schöne Schnulzen trällern! Das Lied ist wie so
vieles in Kasan: ein wenig arg gewollt.
Die Bahnhöfe der U-Bahn sind überdimensioniert. Die Kacheln der neuen
Einkaufszentren und Businessgebäude glänzen ein wenig zu sehr. Kasan will
sauber sein und vergisst fast ein wenig das Leben. Das bringen die Fans auf
die Baumanova, die Straße, die ihnen der Fußballgott gebaut hat.
6 Jul 2018
## AUTOREN
Andreas Rüttenauer
## TAGS
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