| # taz.de -- Erstes WM-Fazit: Menschen, Tore, Sensationen | |
| > Was bleibt von der WM, wenn sie am Sonntag endet? Das taz-WM-Team hat | |
| > Stars gesehen, gechillte Schiedsrichter, präzis fliegende Bälle und | |
| > reisefreudige Fans. | |
| Bild: Selfie! Fans und das WM-Maskottchen in Moskau | |
| ## Die Jungstars | |
| Der belgische [1][Ballstreichler Eden Hazard] ist zu bedauern. Er hätte es | |
| wohl verdient, die Finalteilnehmer sind aber einfach in der besseren | |
| Position. Wenn am Sonntag nach dem Endspiel der beste Spieler dieser WM | |
| gekürt wird, läuft es wohl auf [2][den Franzosen Kylian Mbappé] oder auf | |
| den [3][Kroaten Luka Mordrić] hinaus. Letzterer ist mit seinen 32 Jahren | |
| bei dieser Wahl vielleicht sogar im Vorteil, dem 19-jährigen Mbappé gehört | |
| schließlich sowieso die Zukunft. | |
| Nicht nur Mbappés Sprintqualitäten sind unerreicht, der Spieler von Paris | |
| Saint-Germain ist ebenso gedankenschnell und ballsicher. Manchmal genügt | |
| gar eine fürs Ergebnis nicht relevante Aktion, um von sich reden zu machen. | |
| So geschehen etwa bei seinem genialen Hackentrick im Halbfinale gegen | |
| Belgien, der selbst Mitspieler Giroud überraschte. Ein Tor brachte das | |
| nicht ein, im Bildergedächtnis dieser WM hängen geblieben ist es trotzdem. | |
| Mbappé hängt mit seinen Auftritten auch seine Altersgenossen weit ab. Der | |
| energiegeladene Kroate Ante Rebić, 22, und der zweikampfstarke Rodrigo | |
| Bentancur, 21, aus Uruguay fielen in Russland ebenso positiv auf wie der | |
| kolumbianische Innenverteidiger Yerry Mina, 23, der in vier Spielen, drei | |
| Tore erzielte. Eine stolze Bilanz. Kylian Mbappé spielt im Vergleich zu all | |
| diesen Jungstars aber noch mal in einer anderen Liga. (jok) | |
| ## Die Altstars | |
| Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi? Die Frage aller Fragen im Weltfußball | |
| der letzten Jahre kann nach dieser Weltmeisterschaft neu beantwortet | |
| werden: Weder noch. | |
| Es müssen nämlich neue Fragen gestellt werden. Endlich! [4][Das binäre | |
| Denken hat ein Ende!] Bei den enttäuschenden Argentiniern enttäuschte Messi | |
| besonders. Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro startete furios – allein | |
| gegen Spanien schoss er drei Tore, scheiterte aber ebenfalls schon im | |
| Achtelfinale mit Portugal an einem kaum überwindbaren uruguayischen | |
| Abwehrriegel sowie der ausgefuchsten Sonderbewachung durch José María | |
| Giménez und Diego Godín. Sie verteidigen sonst bei Atlético Madrid, dem | |
| Stadtrivalen von Real, wo CR7 bislang spielte. Vergebens wartete man also | |
| auf einen der genialen Momente Ronaldos. | |
| Ach ja, und apropos Warten auf Geniales von Superstars: Ähnlich erging es | |
| bei dieser WM auch Neymar. Immerhin: Der 26-jährige Brasilianer wird für | |
| ausgiebiges Krümmen und die schauspielerischsten Schwalben in Erinnerung | |
| bleiben. | |
| Ihren Abschied aus der Nationalmannschaft haben Ronaldo (33) und Messi | |
| (31), die bei dieser WM stark an Unberechenbarkeit eingebüßt haben, indes | |
| noch nicht verkündet. | |
| Sie suchen wohl noch nach einem genehmeren Anlass. CR7 will zumindest auf | |
| Vereinsebene noch einmal neu Schwung nehmen. Mit seinem Wechsel von Real | |
| zu Juventus Turin und dem Abschied vom altgewohnten, bequemen Umfeld nimmt | |
| er so [5][eine Art letzte Verjüngungskur] als Spieler vor. Für die nächste | |
| WM in Katar 2022 wird es dennoch kaum reichen. (jok) | |
| ## Der Trainer | |
| Als wäre er Schaffner und würde an der Schnur einer altertümlichen | |
| Eisenbahnglocke ziehen, so sah es aus, als Aliou Cissé das Siegtor seines | |
| Senegal gegen Polen bejubelte. Arm hoch, Arm runter, kerzengerade, | |
| konzentriert. Es war nicht nur diese Komposition von Freude und Stolz, es | |
| war der gesamte Auftritt des Senegal und seines Trainers, der fußballvolle | |
| Herzen während der WM erwärmte. Cissé selbst [6][hatte den Seinen | |
| eingebläut], die Bälle nicht nur schmuck zu streicheln, sondern sie dann | |
| auch schnöde ins Tor zu schieben. Als einzige afrikanische Mannschaft | |
| gewannen sie so ihr Auftaktspiel, letztlich scheiterten sie nur in der | |
| Fair-Play-Wertung an Japan. | |
| Cissé war nicht nur der jüngste Coach dieser WM. Er war der einzige | |
| Schwarze Trainer. Das wurde thematisiert, als sei nur eines von beiden | |
| möglich. Cissé aber gab zu verstehen, er sei so selbstverständlich Schwarz | |
| wie Trainer. Und er ist einer, der bleiben wird. Ein Barack Obama des | |
| Fußballs, keine Spur weniger kultiviert, kein bisschen weniger cool. | |
| Cissé feierte mit seiner Mannschaft, als wäre er noch immer ihr Kapitän – | |
| wie damals im Viertelfinaljahr 2002, als es diese unglaublichen Momente | |
| gab. Es hätte sie auch in diesem Jahr geben können, geben müssen. Dann | |
| hätte Cissé schon jetzt beweisen können, was er, so viel sei versprochen, | |
| in naher Zukunft noch zu beweisen gedenkt: dass es afrikanische Trainer | |
| braucht, „um den afrikanischen Fußball groß zu machen“. (havo) | |
| ## Die Schiedsrichter | |
| Was hat es vor dieser WM Mutmaßungen über mögliche | |
| Schiedsrichter-Diskussionen gegeben. Wer hatte nicht alles gewarnt! Der | |
| Videobeweis! Die ganze neue Technik, mit der bestimmt keiner klarkommt! | |
| Nach jedem Spiel endlose Debatten! | |
| Nichts davon ist eingetreten. Im Gegenteil: Der Videobeweis hat dafür | |
| gesorgt, dass Druck und Diskussion von den Schiedsrichtern weitgehend | |
| wichen. Sie mussten nicht mehr unfehlbar sein, sie konnten sich noch einmal | |
| eine Zeitlupe anschauen. Und die Leistungen der Unparteiischen waren, das | |
| muss man festhalten, weitgehend ausgezeichnet. | |
| Das Finale pfeift jetzt der furchteinflößende Néstor Pitana mit seiner | |
| Stummfilm-Oscar-würdigen Gestik – beim Brasilien-Spiel in der Vorrunde | |
| unterband [7][noch Björn Kuipers] so wunderschön die Schauspieleinlagen von | |
| Neymar, dass manch einer den Niederländer gern im Finale gesehen hätte. Nur | |
| der deutsche Schiedsrichter Felix Brych musste früh nach Hause fahren, | |
| angeblich weil die Fifa sauer war wegen „ständiger Extrawünsche der | |
| DFB-Delegation“, so wurde es kolportiert. Alles Lüge, findet Reinhard | |
| Grindel. (asc) | |
| ## Die Spielorte | |
| Es hätte nicht besser laufen können [8][für Kasan]. Die Stadt an der Wolga | |
| ist eingegangen in die Fußballgeschichte. Der Bau der Arena, die bereits | |
| 2013 eröffnet wurde, hat sich jetzt erst richtig gelohnt. Die WM-Städte | |
| Wolgograd, Samara, Saransk und Jekaterinburg sind schon jetzt fast | |
| vergessen. Kasan wird unvergesslich bleiben. | |
| Deutschland, Argentinien, Brasilien – drei Dinosaurier des Fußballs haben | |
| in der Arena der Stadt [9][ihr WM-Leben gelassen]. In diesen drei großen | |
| Fußballnationen gibt es ein neues Synonym für Scheitern, Schande und | |
| Schmach. Es heißt Kasan. Viel mehr wird von der Stadt mit 1,1 Millionen | |
| Einwohnern vielleicht nicht in Erinnerung bleiben. Nicht der Ruf des | |
| Muezzins in diesem multikulturellen Ort, nicht der Gesang aus den | |
| orthodoxen Kirchen, nicht die Romantik am Ufer der Wolga, nicht der Klang | |
| der tatarischen Sprache – und nicht der offensichtliche Wohlstand im | |
| rohstoffreichen Tatarstan. | |
| Kasan ist die Schicksalsstadt dieses Turniers. Und wird doch immer ein | |
| Rätsel bleiben. Was weiß man schon über Córdoba, die Stadt der deutschen | |
| Schmach bei der Argentinien-WM 1978? Eben. (arue) | |
| ## Die Laterne | |
| Es ist die Laterne dieser WM, draußen vor dem großen Stadion in Sotschi. | |
| Der Bundestrainer hat mit ihr posiert. Als Zeugnis der Eitelkeit des | |
| deutschen Fußballs sollte sie deshalb am besten im DFB-Museum in Dortmund | |
| einen festen Platz bekommen. | |
| Sollte Fußballdeutschland bei diesem Bild wirklich glauben, hier an der | |
| Strandpromenade von Sotschi mache sich der Bundestrainer gerade Gedanken | |
| über den Matchplan für das nächste Spiel? Wer das glaubte, der fand auch | |
| all diese sinnlosen Slogans rund um die Nationalmannschaft („Best Never | |
| Rest“), diese scheinwitzigen Hashtags (#zsmmn) und das Etablieren der | |
| Handelsmarke „Die Mannschaft“ superduper. | |
| Darüber wird er oder sie vielleicht vergessen haben, dass es bei einer WM | |
| eigentlich ums Fußballspielen geht, und dass man nicht automatisch wieder | |
| Weltmeister wird, weil man es vor vier Jahren schon mal geworden ist. Löw | |
| hat mit seinem Poserauftritt sich selbst zur Handelsmarke gemacht. Er mag | |
| als „Der Trainer“ für „Die Mannschaft“ die Idealbesetzung gewesen sein… | |
| das Achtelfinale dieser WM hat das aber, wie alle gesehen haben, [10][nicht | |
| gereicht]. (arue) | |
| ## Die Latino-Fans | |
| Eine Zugreise allein unter Argentiniern in Russland zwischen Moskau | |
| [11][und Nischni Nowgorod] mit spanischen Durchsagen? Bei dieser | |
| Weltmeisterschaft waren erstaunliche Dinge möglich. Mehr als 54.000 | |
| WM-Tickets wurden in dem südamerikanischen Land verkauft. Dabei liegen | |
| 13.467 Kilometer zwischen Buenos Aires und Moskau. | |
| Ähnliche Entfernungen sind es nach Kolumbien und Brasilien, aber hier war | |
| die Nachfrage mit 65.000 respektive 72.000 Tickets sogar noch größer. | |
| Die europäischen Halbfinalisten konnten da bei ihrer „Heim“-WM allesamt | |
| nicht mithalten. Im St. Petersburger Krestowski-Stadion wurde deshalb beim | |
| Viertelfinale der belgische Block von den Brasilianern verstärkt. Na gut: | |
| Das eine Land hat 11, das andere 207 Millionen Einwohner. Ein peruanischer | |
| Fan hat angeblich sogar 25 Kilogramm zugenommen, um an Tickets zu kommen. | |
| Der Grund: Es gab nur noch Karten für Menschen mit eingeschränkter | |
| Mobilität. Nun ja: Peru nahm zum ersten Mal seit 36 Jahren an einer WM | |
| teil. | |
| Auch was die Euphorie betrifft, hatten die Latinos die Nase vorn. Am Roten | |
| Platz wurden Samba-Trommeln geschlagen und Tango getanzt. Vielen im | |
| Gastgeberland hat das gut gefallen. Einige der Südamerikaner haben sich | |
| jedoch schon vor dem sportlichen Abschied disqualifiziert. Ihr Gefallen an | |
| den russischen Frauen missfiel einigen russischen Männern. | |
| Besitzstandsreflexe wurden hervorgerufen. Das missfiel wiederum den | |
| russischen Frauen. (jok) | |
| ## Die Viererkette | |
| Säuberlich aufgereiht stehen sie da, die Abstände minutiös austariert, und | |
| sobald der Ball sich bewegt, tun sie es auch, im genau richtigen Abstand, | |
| als verbünde sie ein unsichtbares Band: die beiden schwedischen | |
| Viererketten. Die Blicke der Spieler gehen nach links, nach rechts, sie | |
| versichern sich, ob sie am richtigen Platz sind, in der richtigen Position, | |
| um den anderen bestmöglich zu helfen. | |
| Sie waren ein Manifest des Kollektivs, und entsprechend lobte Trainer Janne | |
| Andersson auch die Loyalität, die seine Mannschaft auszeichnete und sie – | |
| für viele dann doch überraschend – [12][bis ins Viertelfinale führte]. | |
| Diese Loyalität stand sinnbildlich für einen der großen Trends in diesem | |
| Jahr: Es war eine WM, vielleicht die erste, in der auch die „kleinen“, | |
| fußballerisch weniger beschlagenen Mannschaften in taktischer Hinsicht | |
| nicht abfielen, sondern sich mit „högschder Disziplin“ (badischer O-Ton | |
| Jogi Löw) kunstvoll geschult zusammen in einem System über den Platz | |
| bewegten. Eine der wenigen Ausnahmen bei diesem Taktikfestival: die | |
| deutsche Mannschaft, ausgerechnet, die nie zu ihrem Plan fand. Mit | |
| bekanntem Ausgang. (fv) | |
| ## Der Lothar | |
| Erst machen [13][Mesut Özil und Ilkay Gündogan ein Foto], das sie für | |
| privat halten, mit Recep Tayyip Erdoğan. Es folgen wochenlange Polemiken. | |
| Ganz vorne mit dabei: [14][Lothar Matthäus] in seiner Bild-Kolumne. Das | |
| Foto nennt er unglücklich und fordert, Özil müsse sich jetzt Gedanken | |
| machen: „Ich habe bei Özil auf dem Platz oft das Gefühl, dass er sich nicht | |
| wohlfühlt im DFB-Trikot.“ Bäm. Ganz zufällig findet dann auch Oliver | |
| Bierhoff, man hätte vielleicht „aus sportlichen Gründen“ [15][besser auf | |
| Özil verzichtet]. | |
| Einige gedankenlose Tage später trifft Matthäus bei einem Empfang Wladimir | |
| Putin und macht ein PR-Foto mit ihm. Man müsse halt miteinander sprechen | |
| und nicht einander boykottieren, schreibt er. Bild-Heiopei Julian Reichelt | |
| schreibt daraufhin einen empörten Artikel: Wenn Matthäus Putins blutige | |
| Hände schüttele, mache er sich zum „Entschuldiger einer Mordmaschine“ und | |
| trete den „Sport, der ihm alles geschenkt hat“ mit Füßen. Auch bäm. | |
| Als Antwort postet Matthäus auf Twitter statt eines Gedankens ein Bild, wie | |
| Bild-Vize Nikolaus Blome Putin bei einem Treffen die Hand schüttelt. Dafür | |
| wird er ausgiebig gefeiert: schlagfertig sei das, originell, witzig, super | |
| PR-Gag. Willkommen im Land der Zyniker. (fv) | |
| ## Der Ball | |
| Mindestens 35 Fernschusstore prophezeite Spaniens Ersatztorhüter Pepe Reina | |
| für diese WM. Das war im März, als der neue Ball Telstar 18 zum ersten Mal | |
| getestet wurde. Das Spielgerät sei unmöglich einzuschätzen, monierte er, | |
| „die Torhüter werden eine Menge Probleme haben“. Teamkollege David de Gea | |
| und auch Marc-André ter Stegen pflichteten ihm bei: Merkwürdig sei das | |
| Ding, außerdem sehr glitschig, weil es mit einer Plastikschutzschicht | |
| überzogen sei. Zudem fliegt es sehr viel stabiler als seine Vorgänger, | |
| insbesondere als das Exemplar von 2010. Dieses Ei namens Jabulani hatte zu | |
| einigen Nervenzusammenbrüchen bei Keepern und Distanzschützen geführt, weil | |
| er flatterte wie eine angeschossene Ente. | |
| Reinas Prophezeiung erwies sich dennoch als tendenziell übertrieben: 25 | |
| Tore aus der Distanz sind es bisher, wenn man Tscheryschews Eigentor gegen | |
| Uruguay mitzählt. Nichtsdestotrotz scheint sich der Telstar gut | |
| kontrollieren zu lassen: Die vielen Tore nach Standards sind dafür ein | |
| beredtes Beispiel. Fast die Hälfte aller Tore fielen nach ruhenden Bällen. | |
| Neben Telstar 18 ist natürlich auch ein gerüttelt Maß an Training dafür | |
| verantwortlich. | |
| Die Torhüter beklagten sich jedenfalls nicht. Es gab nur zwei gravierende | |
| Torwartfehler, die zu Treffern führten: Uruguays Muslera im Viertelfinale | |
| gegen Frankreich und de Gea, dem beim ersten Spiel gegen Portugal ein Ball | |
| durchrutschte. Nach einem Distanzschuss. (fv) | |
| 14 Jul 2018 | |
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