# taz.de -- Das Erasmusprogramm als Lebensstil: Europa später | |
> Das Erasmus-Programm macht aus jungen Menschen Europäer und | |
> Europäerinnen. Eine ukrainische Studentin erzählt, wie es ihr damit | |
> erging. | |
Bild: Willkommenstag für Erasmus-Studierende an der Universität Porto | |
„Deine Zukunft sehen wir in Europa“ sagten meine Eltern zu mir, als ich | |
sieben Jahre alt war. Sie hatten einen Ausreiseantrag aus der Ukraine | |
gestellt und meinten, dass wir vielleicht, so er bewilligt werde, nach | |
Deutschland auswandern. In einem Jahr, oder in fünf, oder wenn es schlecht | |
läuft überhaupt nicht. | |
Ich war irritiert. In unseren Erdkundebüchern stand doch, dass die Ukraine | |
in Europa liegt. Stolz wurde darin betont, dass das westukrainischen Dorf | |
Dilowe die geografische Mitte des europäischen Subkontinents ist. | |
Zudem lernte jedes Kind, dass westliche Teile unseres Landes zu | |
verschiedenen Zeiten zu Polen, Litauen und Österreich-Ungarn gehörten. Nach | |
Spuren Europas in der Ukraine musste man dennoch lange suchen. Wäre da | |
nicht der gute Lembergische Kaffee oder die katholische Kirche gewesen, | |
hätten wir gar nicht gemerkt, dass es gar nicht so lange her ist, dass | |
Europa auch mal in der Ukraine war. | |
Eines war allerdings allen klar: So bald würde der Wunderkontinent nicht in | |
unser Land zurück kommen - und damit auch keine sauberen Straßen, pünktlich | |
abfahrende Züge, Mülltrennung und Spielverbotsschilder im Park. Dafür haben | |
meine Eltern und ich das Land verlassen. Und natürlich auch für die | |
Zukunft. Seit meiner Geburt hatte sich in der Ukraine nichts verändert. Es | |
gab einmal eine kurzes Intermezzo – die Orangene Revolution 2004 – danach | |
wieder Stillstand. | |
## Weggehen | |
Zehn Jahre nachdem meine Eltern die Ausreise beantragten, kam ein Brief aus | |
Deutschland. Mit dem hatte keiner von uns mehr gerechnet. Man dürfe kommen, | |
stand darin. Wir wagten den Schritt. So hat mein Migrantenleben angefangen: | |
Ich war 18, als wir endlich in Mannheim landeten und ich eine neue Sprache | |
lernen musste. Mit 21 hatte ich mein deutsches Abitur und einen | |
Studienplatz in Berlin. Irgendwann dachte ich: „Oh, ich fühle deutsch.“ | |
Aber was kommt danach? „Europa.“ Ich dachte, ich muss Europa finden, wie | |
meine Eltern es sich für mich gewünscht hatten. | |
Das Erasmus-Programm der EU, das den Austausch zwischen europäischen | |
Studenten und Studentinnen fördert, war der Weg dahin. Am 24. August 2014, | |
es war der ukrainische Unabhängigkeitstag, bestieg ich einen französischen | |
TGV. Ich zog zum Gedenken an den Unabhängigkeitstag meine ukrainische Bluse | |
an und dachte die ganze, lange Fahrt über an die Ukraine, an alles, was | |
dort im letzten Jahr geschehen war, an die Kämpfe im Osten des Landes, die | |
zu der Zeit sehr hart waren. Mein Herz tat weh für die Ukraine. | |
Gleichzeitig ging ich Erasmus entgegen, um meine neue Heimat Europa für | |
mich zu finden. | |
Natürlich machte ich alles richtig. Mit sehr geringen | |
Französischkenntnissen ging ich nach Frankreich, lernte dort | |
Trinkgewohnheiten anderen Nationen kennen, verliebte mich. In meiner Heimat | |
starben Menschen und ich feierte Europa. Genauso ging es meinem neuen | |
besten Freund Hassan aus Syrien. Wir feierten und wollten nicht wahrhaben, | |
wie die Welt um uns herum zerbricht. Erasmus wurde zu einem Lebensstil, | |
einer Philosophie mit ihren eigenen Regeln und Riten. „Bist du Erasmus?“, | |
fragten wir einen auf einer Party. „Nein ich bin David“, antwortete er. Er | |
war Mexikaner, aber die Erasmus-Rituale gefielen ihm. Wie überhaupt US- und | |
Südamerikaner darüber staunten, mit wie vielen verschiedenen Nationen man | |
an einem Abend anstoßen kann. Alle wurden Erasmus. | |
## Zurückkommen | |
In meinem vorherigen Leben trennten uns Unterschiede, hier brachten sie uns | |
umso mehr zusammen. Das Wort Ausländer gab es in der Erasmuswelt nicht. | |
Eine Utopie, ein Märchen. Der Anfangsbuchstabe E von Erasmus steht für | |
Europa, und während wir Europa 2014/2015 in Frankreich gefeiert haben, | |
merkten wir nicht, wie es im Hintergrund zu zerfallen begann. Die Anschläge | |
in Paris passierten, als ich noch in Frankreich lebte. „Je suis Charlie“ | |
klebte an den Autos, hing an den Wänden in der Uni. Aber der Schock war | |
schnell vorüber, und wir lebten unsere Illusion weiter. | |
Als Erasmus vorbei war, waren wir nicht mehr dieselben, mussten aber ins | |
frühere Leben zurück. Post-Erasmus-Depression kennen viele. Ich denke die | |
Ursache dafür ist nicht, dass wir nicht mehr so viel feiern konnten, | |
sondern dass das veränderte Weltbild nicht mehr in den Alltag passte. | |
Zurück in Deutschland hieß zurück in der Realität: Krise, Flüchtlinge, | |
Rechtsradikale, Anschläge von Paris, von Brüssel. Mein Herz tut weh nicht | |
nur für Ukraine. Wer in einer Fantasie gelebt hat, den schlägt Wirklichkeit | |
umso stärker. | |
Drei Millionen Erasmus-AbsolventInnen gibt es mittlerweile. Das ist mehr, | |
als die Bevölkerung von Litauen. Wir haben zusammen getrunken und gefeiert. | |
Europa haben wir nicht gestaltet, wir tragen es als Utopie nur weiter in | |
uns. | |
Und nun sind Sie gefragt: Wie viel Europa steckt in Ihnen? Erzählen Sie | |
Ihre Geschichte | |
Mehr über die Genese des europäischen Menschen steht unter dem Stichwort | |
„Fremde oder Freunde“, das auch das Motto des am Samstag stattfindenden | |
taz-labs im Haus der Kulturen der Welt in Berlin ist, in der [1][taz.am | |
wochenende] vom 2./3. April 2016. | |
1 Apr 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Ausgabe-vom-2/3-April-2016/!162076/ | |
## AUTOREN | |
Katja Blazheichuk | |
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