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# taz.de -- Serie Fluchtpunkt Berlin (2): Alpträume unterm Riesenrad
> Der Weihnachtsmarkt auf dem Alex ist eine Hölle aus Lebkuchen und
> Neonlicht. Und für die Mottawehs eine Gelegenheit, der Langeweile im Heim
> zu entkommen.
Bild: Was für ein Spaß: Eisbahn und Riesenrad auf dem Weihnachtsmarkt am Rote…
Mahmoud Mottaweh steht unter der Weltzeituhr am Alexanderplatz und hat für
die Vergangenheit nicht mehr als einen flüchtigen Blick übrig. Viertel nach
fünf am Nachmittag zeigt die Uhr für das syrische Damaskus und für Beirut
im Libanon. Der 34-Jährige guckt hoch, der Blick distanziert. Seine Heimat,
das Bürgerkriegsland Syrien, aus dem er mit Frau und vier Kindern im
Februar 2013 geflohen ist, ist in diesem Moment sehr weit weg. Drei lange
Fluchtjahre und der Alexanderplatz mit seinem irren Labyrinth aus
Lebkuchenbuden und Glühweinhütten trennen Mahmoud Mottaweh an diesem
Adventsnachmittag von der Vergangenheit in Damaskus.
Die Gegenwart ist laut und aufdringlich. Sie schleudert neonbunte Blitze
über den regennassen Alexanderplatz und riecht nach Frittierfett und
karamellisiertem Puderzucker. Zehn Quarkkeulchen für 3 Euro: Es weihnachtet
heftig auf dem großen Rummelplatz hinterm Shoppingzentrum. Mahmoud Mottaweh
aus Damaskus fühlt sich trotzdem zu Hause. Bevor 2011 der Bürgerkrieg sein
Heimatland in Trümmer legte, hatten sie auch so einen Rummelplatz, erzählt
der gläubige Muslim. Im Herbst wurde dort immer das Opferfest gefeiert, im
Sommer das Zuckerfest, zum Ende des Fastenmonats Ramadan. Im Dezember war
dann die christliche Minderheit mit ihrem Weihnachtsmarkt an der Reihe.
Mahmoud Mottaweh blickt auf die überdimensionierte Weihnachtspyramide neben
der Weltzeituhr. „Viel zu Essen, viel zu kaufen, viele Leute, genau wie in
Damaskus damals – für die Kinder ist das schön“, sagt er diplomatisch.
Weihnachten, das ist für Familie Mottaweh jetzt vor allem eine Gelegenheit:
„Hauptsache, die Kinder kommen nachmittags nach der Schule noch mal raus“,
sagt ihr Vater. Das Warten im Heim mache die Menschen antriebslos, sagt er.
„Wir sagen auf Arabisch: Menschen sind wie Wasser in einem Eimer. Wenn das
Wasser zu lange steht, wird es schlecht.“
Seit fünf Monaten wohnen Mahmoud Mottaweh, seine Frau Salwa Kamel, die drei
Jungs Mohamad Loui (9), Obai (7) und Omar (6) und die kleine Schwester Alma
(3) in einem Flüchtlingsheim in der Marzahner Rhinstraße. Es ist eine
sogenannte Erstaufnahmeeinrichtung, eigentlich nur als zweimonatige
Durchgangsstation auf dem Weg in eine Gemeinschaftsunterkunft gedacht.
Oder, bestenfalls, in eine eigene Wohnung – also ein Zuhause mit
Privatsphäre, einem eigenen Bad, einem Klingelschild mit Namen an der
Wohnungstür.
## Rosa Einhörner
Doch die Differenz zwischen Realität und behördlichem Anspruch bemisst sich
eben schon längst nicht mehr in Wochen, sondern in Monaten. Rund 30.000
Menschen, die meisten aus Syrien, flüchteten 2015 bis Anfang Dezember nach
Berlin, meldet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – das sind knapp
dreimal so viele Menschen wie 2014.
Unter der Weltzeituhr werden die Kinder langsam zappelig. Die Jungs wollen
„bitte, bitte“ endlich Karussell fahren. Ein rosa Einhornluftballon schwebt
vorbei: Alma, die Dreijährige, tänzelt ihm in ihren pinken Lacklederschuhen
nach, so weit der Arm ihrer Mutter sie lässt.
Organisiert haben das Weihnachtsprogramm der Mottawehs Gabi Dittberner und
ihr Sohn Denny. Gabi, blondierte Haare und Elchgeweih auf dem Kopf,
verteilt Nikolausmützen an die Mottaweh-Kinder. Die 61-Jährige war gerade
auf dem Rückweg von einem Familienbesuch in Schleswig-Holstein nach Berlin,
als ihr die beiden Kinder auffielen, die sich da abends im ICE-Abteil
friedlich an ein Stofftier kuschelten.
Sie sprach die Familie an, die gerade auf dem Weg aus einem
Erstaufnahmelager in Kopenhagen in ein anderes nach Halberstadt bei
Magdeburg war. In Deutschland, so die Hoffnung der Mottawehs, ginge es
sicher schneller voran mit dem Asylantrag. Gabi Dittberner half beim
Umsteigen am Berliner Hauptbahnhof. Der Sohn dolmetschte, weil seine Mutter
kein Englisch und die Familie Mottaweh kein Deutsch spricht. Mahmoud
Mottaweh notierte sich die Handynummer von Gabis Sohn. Als er nach ein paar
Wochen von den Behörden aus Halberstadt nach Berlin weitergeschickt wird,
schickte er ein Foto von sich und den Kindern in der Warteschlange am
Lageso. Es dauert nicht lange, bis die Dittberners die Familie in einer
Notunterkunft, einem Hostel in Mitte, aufgespürt hatten.
## Stiefel zum Nikolaustag
Seitdem kommt Gabi Dittberner einfach immer wieder vorbei. Jede Woche
besucht sie die Familie im Heim, backt mit den Kindern in der Adventszeit
Kekse oder bringt gefüllte Stiefel zum Nikolaustag . Als in den ersten
Monaten das Landesamt für Gesundheit und Soziales noch kein „Taschengeld“
zahlt, weil die Mottawehs noch auf ihre Erstregistrierung warten müssen,
gründet ihr Sohn eine Spendengruppe bei Facebook. Schnell kommt genug Geld
für kleinere Unternehmungen zusammen. Einmal gehen die Dittberners mit der
Familie ins Kino, Popcorn inklusive: Die Kinder lieben die „Minions“,
kleine, gelbe Zeichentricksuperhelden.
Vor ein paar Tagen war Denny Dittberner mit Mahmoud Mottaweh bei einer
Lichtenberger Wohnungsgesellschaft, um die Familie dort in die Kartei von
Wohnungssuchenden einzuschreiben. Alle Vermieter, sagt Mahmoud Mottaweh,
legten gleich wieder den Hörer auf, sobald die Wörter „Syrien“ und „Hei…
fielen.
Warum aber helfen die Dittberners so bereitwillig in ihrer Freizeit? Denny,
40 Jahre alt, Flugbegleiter bei der Lufthansa, zuckt die Schultern.
Sympathie für die Familie? Klar. Interesse? Ja, auch klar. „Sie sind schon
auch ein wenig meine Ersatzfamilie“, sagt Gabi Dittberner, die als
Archivarin im St.-Hedwig-Krankenhaus gearbeitet hat, bis sie zuletzt wegen
Depressionen dauerhaft krankgeschrieben wurde. Sie winkt jetzt den Jungs
zu, die juchzend in der Kinderachterbahn vorbeisausen. Gabi Dittberner
hilft, nicht zuletzt wahrscheinlich auch sich selbst.
Später steht Mahmoud Mottaweh unter der Geisterbahn „Funny Joe“ und zieht
sich mit den Fingern die Mundwinkeln nach oben, als lache er. Er sei so
furchtbar müde, sagt er. „Ich muss vor meiner Familie immer fröhlich tun
und zuversichtlich sein – aber ich bin es schon längst nicht mehr.“
## „Smile!“, ruft jemand im Vorübergehen
Im Januar ist der Geburtstermin für das fünfte Kind der Familie, ein
Mädchen. Gerade versucht er, auf dem Bürgeramt die Vaterschaft anerkennen
zu lassen. Das ist nicht so leicht, weil er seine Papiere in Dänemark
gelassen hat. In den Pässen seiner Familie steht, dass sie in Italien
erstregistriert wurden. Nach dem Dublin-Abkommen müssen Flüchtlinge in das
EU-Land zurück, in das sie zuerst eingereist sind. Zwar sind die
Einzelfallprüfungen für Flüchtlinge aus Syrien derzeit ausgesetzt – doch
fordern Innenminister Thomas de Maizière (CDU) und seine Kollegen in den
Ländern bereits seit November eine Rücknahme dieser Ausnahmeregel.
Mahmoud Mottaweh deutet auf die Gondeln des Riesenrads, die sich langsam
drehen. „Wir hatten in Damaskus auch so eins“, sagt er unvermittelt. „In
den letzten Jahren saß da aber nur noch Assads Polizei drin. Von da oben
haben sie das beste Schussfeld.“ Noch ein gemeinsames Erinnerungsfoto vor
der riesenhaften Weihnachtsmannpuppe, die Alma zum Weinen bringt. „Smile!“,
ruft jemand im Vorübergehen.
23 Dec 2015
## AUTOREN
Anna Klöpper
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