# taz.de -- taz-Serie Fluchtpunkt Berlin (3): Schule ist ein guter Ort | |
> Die Kinder der Familie Mottaweh haben ihr erstes Zeugnis. Tatsächlich | |
> funktioniert in Berlin die Integration der Flüchtlingskinder erstaunlich | |
> gut. | |
Bild: Willkommen: In den Schulen klappt die Integration der Flüchtlingskinder … | |
„Ah, was ist das? Null Punkte!“, ruft Mahmoud Mottaweh, wirft dramatisch | |
beide Arme in die Luft und hält seinem neunjährigen Sohn dessen | |
Halbjahreszeugnis unter die Nase. „Null Punkte!“ Doch der Vater sagt es | |
eine Spur zu theatralisch, seine Mundwinkel zucken, sodass Mohamads Brüder | |
schließlich doch anfangen müssen zu kichern. | |
Freitagvormittag, in der Mensa der Adam-Ries-Schule am östlichsten Rand von | |
Lichtenberg riecht es nach dem Rosenkohl, den kein Kind essen mag. Es ist | |
der letzte Tag des ersten Schulhalbjahrs. Für Mohamad aus Damaskus und | |
seine Brüder, die seit August mit ihren Eltern und zwei kleinen Schwestern | |
in einer Flüchtlingsunterkunft in der nahen Rhinstraße wohnen, war es das | |
erste in Deutschland überhaupt. | |
Null Punkte fürs Verbenkonjugieren sind da relativ, das weiß auch Mohamads | |
Vater. Im Heim wartet seine Frau mit dem zehn Tage alten Baby, das nicht | |
schlafen kann, weil es einfach nie ruhig ist im Treppenhaus. Er sucht | |
inzwischen auf eigene Faust eine Wohnung, weil er die Hoffnung aufgegeben | |
hat, dass das Amt ihm irgendwann doch mal eine vermittelt. Es läuft nicht | |
gut: Wenn die Vermieter nicht schon am Telefon auflegen, ist Mahmoud | |
Mottaweh froh. | |
Die Schule aber ist ein guter Ort. Dass seine Söhne hier jeden Morgen | |
herfahren, um Verben zu konjugieren und mit den anderen Kindern auf dem | |
Schulhof Fußball zu spielen, ist eine der wenigen Sachen, die für die | |
Mottawehs bisher wirklich funktioniert hat in Berlin. | |
Tatsächlich gibt es derzeit in der Flüchtlingskrise eine Sache, die die | |
Stadt überhaupt nicht auf die Reihe bekommt, und eine andere, die ziemlich | |
geräuschlos vonstattengeht: Während die Unterbringung der Menschen immer | |
noch nicht rundläuft und viele von ihnen etwa viel zu lange in den | |
Notunterkünften auf dem Tempelhofer Feld ausharren müssen, weil es schlicht | |
keine Alternative gibt, hat die Integration der Kinder in die Schulen | |
bisher alles in allem erst mal funktioniert. | |
Natürlich wird der Raum fürs Gelingen knapper – die Obergrenze von zwölf | |
Kindern pro Willkommensklasse wird längst nicht mehr überall eingehalten. | |
Und selbstverständlich kann man darauf hinweisen, dass es erst so richtig | |
schwierig werden dürfte, wenn die Kinder nach und nach in die normalen | |
Klassen wechseln – wo die Schulen doch schon jetzt aus allen Nähten | |
platzen. Und doch: Inzwischen werden 7.000 Kinder in den Deutschlernklassen | |
unterrichtet – am Schuljahresanfang waren es noch 5.000. Damit haben die | |
Schulen innerhalb eines Halbjahres so viele Kinder in die | |
Willkommensklassen aufgenommen wie zuvor im gesamten vergangenen Schuljahr. | |
An Mohamads Schule gibt es drei Deutschlernklassen. Schulleiter Hans | |
Strempel sagt, wenn man um die Übel im System wisse, sei das der | |
Willkommensklassen durchaus nutzbar. Eines der Übel, die Strempel | |
ausgemacht hat: die Befristung der Willkommenslehrer, die in der Regel | |
Einjahresverträge bekommen – weil sie oft keine volle Lehramtsausbildung | |
haben. Er hat für seine KollegInnen unbefristete Verträge ausgehandelt: | |
„Alles andere geht doch auf die Motivation.“ Und bei nur einer halben | |
Sozialarbeiterstelle für mehr als 300 Kinder kann sich Strempel | |
ausgebrannte KollegInnen nicht leisten. | |
Bei einem anderen Übel kommt der Schulleiter allerdings an seine Grenzen. | |
Die Zuteilung in die Willkommensklassen richtet sich nicht immer nach dem | |
Einzugsgebiet. Denn wenn ein Kind in eine normale Klasse wechselt, kann | |
eine andere Schule zuständig sein. Dieses „Hin-und-Her-Geschicke“ sei | |
kontraproduktiv für die Kinder, sagt Strempel. Aber inzwischen könne auch | |
er sich nur noch bei Geschwisterkindern für eine Sonderregelung bei der | |
Schulaufsicht einsetzen. | |
## „Insgesamt profitiert“ | |
Der Schulleiter sagt auch: „Insgesamt hat unsere Schule profitiert.“ Am | |
Anfang habe es „Vorurteile“ in der Elternschaft gegeben – „insbesondere… | |
denen, die selbst nicht so viel hatten und es als ungerecht empfanden, dass | |
die Flüchtlingskinder gratis essen dürfen“. Ein Sommerfest und ein | |
Adventssingen später seien die Fronten weniger hart. | |
Die Klassenlehrerin von Mohamad verabschiedet die Kinder mit einem | |
Schokoriegel in die Winterferien. Mohamad arbeitet mit anderen zusammen und | |
übernimmt freiwillig Aufgaben für die Klasse, steht in seinem Zeugnis. Der | |
Vater lässt es sich übersetzen. Er nickt. Sein Sohn hat den Anfang gemacht. | |
31 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
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