# taz.de -- Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Das Kind hatte einen schlechten T… | |
> Es muss mit einem Strickpullover aus ganz frühen Jahren zusammenhängen: | |
> Warum ich mir jedes Jahr auf Neues die Jagd nach Weihnachtsgeschenken | |
> antue. | |
Bild: Ach, es gibt so viele herrliche Wintermotive für Pullover! | |
|Diese Kolumne erscheint zu Heiligabend, also mitten in der Zeit des | |
Schenkens.Ich bereite gern Geschenke, so gern, dass das Besorgen der Gaben | |
leistungssportähnliche Züge in den Disziplinen „Idee“, „Ausdauer“ und | |
„Realisierung“ annimmt. Denn obgleich ich bedauere, dass das westliche | |
Weihnachten mehr denn je ein Konsumfest ist und menschliche Werte in den | |
Hintergrund treten, entwickle ich jedes Jahr aufs Neue einen | |
ausgesprochenen Geschenk-Ehrgeiz. | |
Es beginnt mit einer Liste, auf der ich alle Namen der zu Beschenkenden | |
notiere. Danach beginne ich zu brainstormen und versuche mich in den Alltag | |
von Familie und Freunden, wie in die Pubertät meines Großcousins oder in | |
den Ruhestand meiner Rentnerfreundin zu versetzen. In diesem Jahr habe ich | |
Stichwörter wie Star Wars Battlefront, Neuseeland oder Gelassenheit neben | |
die Namen auf meinem Zettel geschrieben. | |
Ein gelungenes Geschenk arbeite die Persönlichkeit des Beschenkten heraus, | |
sagt Dr. Holger Schwaiger, Soziologe und Schenktheoretiker. Es setzt | |
voraus, dass sich der Schenker mit der Persönlichkeit des Beschenkten | |
beschäftigt hat. Wer schenkt, kommuniziert und sendet kleine Botschaften, | |
wie „Ich kenne dich“ oder „Du bist mir wertvoll“. Warum meine Mutter im | |
vergangenen Jahr eine elektrische Hornhautraspel von meinem Bruder | |
geschenkt bekam, ist mir ein Rätsel geblieben. Meine Mutter aber verstand. | |
Dass auch der Beschenkte soziale Verpflichtungen gegenüber dem Schenkenden | |
hat, wusste ich 1985 noch nicht. Meine Oma war eine begnadete Strickerin. | |
Jedes Jahr zu Weihnachten bekamen wir Enkelkinder Strickpullover mit | |
individuellem Motiv geschenkt, an denen Omi wohl schon seit dem Spätsommer | |
gearbeitet hatte. | |
## Strickpullover von Oma | |
Zu Heiligabend, Mitte der Achtziger, wickelte ich einen rosafarbenen | |
Pullover aus dem Papier. In Brusthöhe waren zwei Eistüten mit Schoko- und | |
Vanille-Wollkugeln platziert. Der Pullover war raffiniert, ja hohe | |
Strickkunst. Sicher war er durch die Hände aller Frauen des dörflichen | |
Handarbeitszirkels gegangen. Ich aber fand ihn doof. Maulend verzog ich | |
mich ins Nebenzimmer. Der Pullover blieb zurück. Dr. Holger Schwaiger würde | |
sagen, meine Oma hatte die Vorlieben und Abneigungen, ja vielleicht sogar | |
meine Lebenseinstellung falsch eingeschätzt. Ich denke, das Kind hatte | |
einfach einen schlechten Tag. | |
Erwachsenen Beschenkten rät der Schenktheoretiker das missglückte Geschenk | |
immer erst einmal anzunehmen – es also symbolisch in Besitz zu nehmen. Die | |
Beziehung zum Schenker könne sonst ins Wanken geraten. Den | |
Pumuckl-Strickpullover, den ich im nächsten Jahr bekam, zog ich nie wieder | |
aus. | |
In vorkapitalistischen Zeiten schenkte man übrigens weniger aus dem | |
Geldbeutel, sondern gab etwas Selbstgefertigtes. So verschenkte der | |
Flechter seinen schönsten Korb oder der Schmied sein bestes Messer an | |
Familie und Freunde. | |
Das erinnert mich an meine Lampenschirme. Ich bastelte sie in Serie und für | |
gleich alle Familienmitglieder. Ich war kreativ, ließ eigene Fotografien | |
von Pariser Laternen im Abendlicht, von Butterblumenwiesen und | |
Ostsee-Stillleben auf Pergamentpapier drucken und klebte sie mit | |
Sprühkleber auf die Lampenschirme. Leider hatte ich mein handwerkliches | |
Geschick überschätzt: Die ovalen und konischen Lampenschirmenformen machten | |
mir das Leben schwer. Mal bedeckten die Bilder die Schirme nur zur Hälfte, | |
dann wellte sich das Pergamentpapier vom Sprühkleber. Mehrmals musste ich | |
neue Schirme nachkaufen. Meine Lampen – sie waren schief und krumm und | |
wurden immer teurer, aber die Familie war entzückt. | |
Und in diesem Jahr? Am vierten Advent war es so weit. Mit meiner Liste in | |
der Hand durchkämmte ich Buchkaufhäuser, Lederwarengeschäfte, Konzeptstores | |
und Medienmärkte, kreiste um Bluetooth-Lautsprecher, portugiesische | |
Schafwolldecken, eingefärbte Ledertaschen und um einen Teebecher to go mit | |
herausnehmbarem Filter, den ich aber doch nicht erwarb, weil alle Personen | |
auf meinem Zettel ihren Tee zu Hause trinken. Ich fuhr die U-Bahn-Linien 6 | |
und 9 rauf und runter, schwitzte in überheizten Geschäften und kämpfte mich | |
vorbei an Menschenmassen. Und ja, ich wurde fündig. Aber ich frage mich | |
auch, warum ich mir das alles antue. Weil es von mir erwartet wurde? Weil | |
ich nicht anders kann? | |
Auf jeden Fall geht es um Liebe. | |
25 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Julia Boek | |
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