# taz.de -- Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Im Viehwaggon gen Norden | |
> „Nur von getrocknetem Brot gelebt“: Eine 90-Jährige erzählt über ihre | |
> Flucht vor 70 Jahren – und wie sie schließlich ankam. | |
Bild: Auch auf der Flucht? Kraniche über Rügen | |
Kürzlich war ich auf der Insel Rügen und besuchte Maria, die alte Nachbarin | |
meiner Oma, die ich seit meiner Kindheit kenne. In ein paar Wochen feiert | |
sie ihren 91. Geburtstag. Maria ist Sudetendeutsche, eine Geflüchtete. 1946 | |
wurde sie mit ihrer Familie aus ihrem Bauernhaus im heutigen Tschechien | |
vertrieben. Das ist 70 Jahre her, auch war Europa nach dem Zweiten | |
Weltkrieg ein anderes. Und doch wiederholt sich Marias Geschichte, wenn | |
derzeit Tausende Menschen vor Krieg und Terror fliehen und in der Fremde | |
einen Neuanfang wagen. | |
Ob sie sich an die Flucht erinnere, frage ich die alte Frau. | |
„Das wirst du nicht mehr los“, sagt sie und erzählt, wie sie | |
zusammengepfercht mit Dutzenden Männern, Frauen und Kindern in einem | |
Viehwaggon mit nur einem Eimer als Toilette quer durch Deutschland fuhr. | |
Weiter in Richtung Norden, wo es vielleicht noch ein Lager gab, das | |
Flüchtlinge aufnahm. Nach einer Woche Zugfahrt und drei Wochen im Lager | |
erreichte sie im Herbst 1946 ein kleines Fischerdorf im südöstlichsten | |
Zipfel Rügens. „Damals haben wir noch gedacht, dass es wieder nach Hause | |
geht“, sagt sie, „wir hatten doch Grund und Boden“. | |
In einer Pension für Badegäste bekam die Familie einen kleinen Raum zum | |
Schlafen. „Hundekalt war der und drinnen stand nur ein Bettgestell.“ Die | |
Hausbesitzerin brachte ein paar Stücken Holz und zwei Briketts, wies | |
Treppendienst an und sagte, dass sie sich um alles Weitere allein kümmern | |
müssten. „Die Einheimischen hatten ja auch nichts“, sagt Maria. | |
Mit einem Eisenhaken zog sie als 21-Jährige in die umliegenden Wälder und | |
sammelte trockenes Geäst für Brennholz. In einem Nachbarort gab es | |
Steckrüben, die die Flüchtlinge zehn Kilometer zu Fuß in ihr Dorf | |
schleppten. Am Strand pflückten sie Hagebutten, schabten die Kerne aus der | |
Schale und kochten Marmelade daraus. | |
„Zuerst haben wir nur von getrocknetem Brot gelebt“, sagt Maria. Den | |
Stoffbeutel mit den Brotkrusten hatte die Familie auf die Flucht | |
mitgenommen. Auch heute sammelt sie Brot. Auf der schmalen Heizung in ihrer | |
Küche biegen sich die Kanten nach oben. „Das kann ich nicht wegschmeißen“, | |
sagt Maria. | |
Im Winter 1946 ging dann die Fischerei los. Für ein paar Heringe konnten | |
die Flüchtlinge im Dorf den Fischern helfen, den Fang aus den Netzen zu | |
sortieren. Bezahlung gab es keine, aber Anerkennung von den Einheimischen. | |
„Da haben die gemerkt, dass wir arbeiten konnten“, sagt Maria. Ein Jahr | |
später bekam sie eine Stelle von der Hauswirtin angeboten, putzte für 30 | |
Mark im Monat die Zimmer in der Pension und erledigte | |
Hausmeistertätigkeiten. | |
Sie hat es mit Arbeitswillen geschafft, denke ich und erzähle ihr von einem | |
Interview mit dem SPD-Politiker Raed Saleh, der sagte, Integration gelänge | |
„meistens dann, wenn man Menschen schnell in Bildung und Beschäftigung“ | |
bringe. | |
„Die Flüchtlinge müssten sehen, dass sie eine Arbeit finden oder wenigstens | |
den Willen zeigen“, sagt Maria, „dann wäre es wohl einfacher für sie.“ | |
4 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Julia Boek | |
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