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# taz.de -- Kolumne Teilnehmende Beobachtung: Kopfsache Bauchgegend
> Muss man in Berlin allein als Frau Angst haben? Verändert sich die Stadt
> oder die eigene Wahrnehmung? Unsere Autorin über Angst.
Bild: Berlin, ein gefährliches Pflaster?
Angst war eigentlich nie mein Begleiter. Auf meiner Heimatinsel Rügen wuchs
ich in der Gewissheit auf, immer überall hingehen zu können. Nächtliche
Waldwanderungen von der Dorfdisko nach Hause: kein Problem. In Berlin,
wohin ich im Wintersemester 1999 zog, setzte ich diese Unbeschwertheit
einfach fort.
Das blieb auch so, als ich meinen Lebensmittelpunkt in einen sogenannten
sozialen Brennpunktkiez nach Wedding verlegte und mein Büro in der
Nachbarschaft dunkler Spelunken und Spielcasinos einrichtete. So wie es
sich für einen Freiberufler gehört, arbeitete ich oft lang bis in die
Nacht. Und macht mich allein auf den Nachhauseweg. Passiert ist mir nie
etwas. Sicher, so allein, war ich vorsichtig, mied einsame Parks und leere
U-Bahn-Waggons. Angst aber kam auch hier nicht auf.
Neulich war es anders. Schon im Sommer hatte ich nach den Berichten über
die Messerattacke auf einen Freund der Musikerin Jennifer Rostock auf dem
RAW-Gelände und die Zunahme von Diebstählen rund um die Warschauer Straße
realisiert, dass sich die Stadt änderte. Nach den Ereignissen um die
Silvesternacht in Köln begreife ich nun aber, dass ich mich ändere.
Kürzlich war ich zum Abendessen in einem Restaurant verabredet. Auf dem
Hinweg musste ich dringend auf die Toilette. Mein Weg eröffnete mir drei
Möglichkeiten: einen Waschsalon, in dem ausschließlich Männer saßen, eine
Shisha-Bar, in der niemand saß, und ein kleiner Park gleich neben der
Hauptstraße, auf der um diese Uhrzeit viele Autos fuhren.
Normalerweise hätte ich gleich die erste Toilette in der Nähe aufgesucht,
jetzt fielen mir die sexuellen Belästigungen in Köln wieder ein. Ich
schlich durch die Straße, begann abzuwägen und verkniff mir schließlich den
Gang zum Klo. Ein kurzes diffuses Gefühl nur, doch hatte es meine
Bewegungsfreiheit in dem Moment erheblich eingeschränkt.
Später erschien mir mein Verhalten lächerlich. Wovor hatte ich Angst? Vor
den vor sich hindämmernden Männern, die auf ihre Wäsche warteten? Dass mir
in den Büschen im Park etwas passierte? Das einzige Risiko hätte wohl darin
bestanden, im Licht der vorbeifahrenden Pkws blank zu ziehen. Von einer
konkreten Gefahr konnte nicht die Rede sein. Laut Berliner Polizei war die
Wahrscheinlichkeit, in der Stadt sexuell belästigt zu werden, seit
Silvester nicht höher als zuvor.
Mein ungutes Gefühl in der Bauchgegend war also reine Kopfsache.
Aufgekommen durch die hysterische Debatte, in der Themen wie Machokultur,
Flüchtlinge, Polizeiversagen und No-go-Areas wild durcheinander gewürfelt
werden.
Sicher stellt der anhaltende Flüchtlingsstrom Land und Bürger vor eine
große Herausforderung. Und gewiss können die Neuen in der Nachbarschaft
manchen irritieren. Gesellschaftliche Veränderungen sind schwierig, noch
dazu wenn sie fast über Nacht passieren.
Mich erinnert das an die frühen Wendejahre auf meiner Heimatinsel, als die
Fremden (damals die Wessis) plötzlich vor unseren Häusern standen, um
„Uromas Villa“ in den Familienbesitz zurückzuführen. Oder an die nervösen
Erwachsenen, die um ihren Arbeitsplatz oder ihren Mietvertrag bangten. Das
Gefühl der allgemeinen Verunsicherung, der Orientierungslosigkeit griff
damals um sich. In Rostock-Lichtenhagen warfen Bürger und Neonazis
gemeinsam Molotowcocktails auf das Sonnenblumenhaus, in dem vietnamesische
Arbeitsmigranten lebten. Und jetzt kommt es wieder vermehrt zu
Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte.
Ich denke, unser Land braucht eine kollektive Abkühlung. Nicht nur in
Gestalt von handlungsfähigen Politikern. Mehr denn je ist jeder Einzelne
gefragt, zu trennen, zu erkennen und dabei nicht zu verwechseln. Unsere
Fähigkeit zu differenzieren darf uns nicht abhanden kommen – und sei es, um
sich nicht in die Hosen zu machen.
31 Jan 2016
## AUTOREN
Julia Boek
## TAGS
taz.gazete
Angst
Nachtleben
Teilnehmende Beobachtung
DDR
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Schwerpunkt Flucht
Duogynon
sexueller Übergriff
Flüchtlinge
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