# taz.de -- Kolumne Teilnehmende Betrachtung: Wo sind nur die Mehmets geblieben? | |
> Frühling an der Plötze – und nichts ist mehr wie noch vor einigen Jahren: | |
> Statt der typischen Weddinger Mischung machen modebewusste Mitzwanziger | |
> die Gegend unsicher. | |
Bild: So entspannt ist es leider an der Plötze nicht immer. | |
Neulich war ich am Plötzensee spazieren, an der „Plötze“, wie der Wedding… | |
sagt. Es war ein herrlicher Tag: Die Sonne schien, Vögel sangen, über den | |
See schallte das Spiel eines Saxophonspielers. An meiner Lieblingsstelle, | |
der Terrasse direkt gegenüber dem Freibad, saßen ein paar Leute, die | |
dösten, andere unterhielten sich. Eine fast feierliche Ruhe, da der | |
Frühling Einzug hielt. | |
Es ging so auch ein Weilchen, bis eine Gruppe modebewusster Mitzwanziger | |
mit Vintagesonnenbrillen, Schnurrbärten und Hochwasserhosen vorbeikam. | |
Einer trug einen Gettoblaster in seinem Rucksack, aus dem Jimi Hendrix’ | |
„Purple Haze“ schnarrte. Die jungen Modemenschen blieben stehen, rümpften | |
lässig die Nasen und sagten: „Was machen denn die ganzen Menschen hier?“ | |
Fünf, zehn, fünfzehn Minuten – die meisten Leute verstanden und packten | |
ihre Sachen. | |
So einfach hätten es ihnen die Weddinger vor ein paar Jahren nicht gemacht, | |
als am Ufer des Sees noch Mehmets und Ahmeds abhingen, Seeschlachten mit | |
geliehenen Wassertretern ausfochten und Dieters und Gerdchens ihre | |
Angelruten ins Wasser hielten. Vorherrschende Seesprachen waren damals noch | |
Deutsch, Arabisch, Türkisch beziehungsweise Kreol. | |
War ich während der Badesaison allein im See baden, wurde ich angesprochen. | |
„Ey Schwester, tust voll viel für deinen Body“, sagte einmal ein junger | |
Mann, als ich ins Wasser springen wollte. „Willste auch mal ziehen?“, bat | |
ein anderer mir seinen Joint an. Damals empfahl es sich, rückwärts über den | |
See zu schwimmen, um die am Ufer liegenden Klamotten im Blick zu behalten. | |
Nach dem Baden ging es noch auf einen Kaffee zu Wolfgang und Gerda in die | |
kleine Fischerpinte, Berliner Rundfunk hören. Manchmal erzählte Gerda mit | |
ihrer tiefen verrauchten Stimme die dollsten Geschichten aus ihrem Leben | |
als Bootsverleiherin. Wie die von der feinen Dame, die beim Aussteigen aus | |
dem Ruderboot in den See plumpste und derart schrill nach ihrer Handtasche | |
kreischte, dass ihr Gatte sie ihr vor Schreck in den See hinterherschmiss. | |
So ging das, tagein, tagaus. Friedlich koexistierten die unterschiedlichen | |
Milieus – Alteingesessene und Zugezogene – des Weddings und von | |
anderswoher. | |
Bis vor etwa drei Jahren Scharen junger Erwachsener, die meisten aus der | |
urbanen Mittelschicht kommend, den See für sich entdeckten. Sie kamen aus | |
Kreuzberg, Friedrichshain, Mitte und Neukölln. Sie kamen plötzlich und in | |
Massen. Und: Sie richteten sich ein. | |
Mehmets, Güvens und Gerdchens trifft man seitdem eher selten. In den | |
Sommermonaten geben jetzt Vintageliebhaber, Kaffeetrinker, Rennradfahrer | |
und Veganer den Ton an. Dicht gedrängt sitzen sie im Freibad, am Ufer und | |
auf den Wiesen, trinken Rotwein, essen Tapas, machen den Sonnengruß oder | |
balancieren auf Bändern, die sie zwischen die alten Bäume gespannt haben. | |
Verkehrssprachen des Sees sind nun Englisch, Spanisch und Deutsch. Für die | |
vielen Populationen des Weddings haben die Urbanen eher wenig Verständnis. | |
Sie sind gerne unter sich, signalisieren: Euer See ist unser See. | |
Auch die Autorin mag Rotwein und beherrscht den Sonnengruß. Dennoch hat sie | |
ihre Mühe damit, dass die jungen Urbanen das Biotop übernommen haben, dass | |
es zum „Monotop“ geworden ist. Eintönig und langweilig. | |
Gerda und Wolfgang müssen jetzt übrigens ordentlich ranklotzen. Neben ihrem | |
Bockwurstverkauf und Bootsverleih richten sie in ihrer Fischerpinte nun | |
Partys „für die jungen Leute“ aus, einmal sogar einen See-Rave. Gerda hatte | |
vor lauter Arbeit sogar Herzrhythmusstörungen. Das ist ungesund. | |
10 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Julia Boek | |
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