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# taz.de -- Flüchtlinge: Ein Vorfall und seine Folgen
> Der Hamburger Stadtteil Ohlstedt galt als Musterbeispiel für
> Willkommenskultur. Dann versuchte ein Geflüchteter, ein Mädchen zu
> küssen.
Bild: „Manchmal fühle ich mich wie auf einem Pulverfass“: Lars Römer, Lei…
HAMBURG taz | Große Einfamilienhäuser säumen die schmale Straße, weiße
Palisadenzäune und adrette Vorgärten bestimmen das Bild. Auf dem Gehweg ein
Rentner mit Stock und Hut, dahinter ein Paar mit Kleinkind. Der Junge lässt
die Füße träge über den Schnee schlurfen. „Yalla“, sagt der Vater und n…
den Sohn bei der Hand, das ist Arabisch für „Komm schon!“
Die Familie steuert auf den Ohlstedter Platz zu. 44 Zelte stehen dort und
ein paar sanitäre Anlagen, umgeben von einer grünen Sichtschutzwand: In der
„Zentralen Erstaufnahmestelle“ für Flüchtlinge leben 380 Menschen. Hier,
mitten im noblen Zentrum des noblen Stadtteils? Als im Sommer die ersten
Zelte aufgebaut wurden, schienen Konflikte unausweichlich. Dann gründeten
Anwohner eine Hilfsinitiative, sammelten Kinderbetten, gaben Deutschkurse.
Als der Begriff noch nicht so abgenutzt war, galt Ohlstedt, im äußersten
Nordosten von Hamburg gelegen, als Musterbeispiel für eine gutbürgerliche
Willkommenskultur.
Das war vor dem Kuss. Dem Kuss, der durch die Presse ging: Anfang Januar
küsste ein 23-Jähriger eine Zehnjährige gegen ihren Willen auf den Mund.
Kein deutscher Mann, ein Somalier, der zu dieser Zeit in der
Flüchtlingsunterkunft lebte, und die Tat später gestand. „Flüchtling
missbraucht Mädchen“, titelten lokale Medien, aber auch bei den Ohlstedtern
warf der Vorfall Fragen auf.
## Eltern in Angst
Zwei Wochen später sitzt Lars Römer in seinem Büro und legt die
Fingerspitzen zusammen. Der Direktor der Grundschule, ringt kurz nach
Worten. „Natürlich gibt es immer wieder Unsicherheit und Ängste im
Stadtteil, da kochen schnell die Emotionen schnell hoch.“ Der Übergriff
fand am nahegelegenen Gymnasium statt, bis zur Flüchtlingsunterkunft sind
es 800 Meter. Einigen Eltern macht diese Nähe Angst. Ihre Forderung: Die
Schulleitung soll einen Zaun um die Grundschule ziehen, zum Schutz der
Kinder. „Wie soll das funktionieren?“ Römer schüttelt den Kopf. Die Sorgen
der Eltern müsse er ernst nehmen, diese Logik aber verstehe er jedoch
nicht. „Organisatorisch ist das kaum machbar, wir haben mehrere
Zugangswege. Außerdem wäre ein Zaun ein falsches Symbol.“
Es ist nicht das erste Mal, dass der Pädagoge mit Ängsten und Vorbehalten
konfrontiert wird. Seit November lernen 29 Kinder aus der Erstaufnahme in
einem zuvor leerstehenden Pavillon der Grundschule. Die neue Klasse hatte
Misstrauen und Protest bei Eltern und Flüchtlingshelfern zur Folge – aus
verschiedenen Gründen. Anfangs ging es ums Alter: „Es gab Bedenken, ob
16-Jährige neben einer Vorschulklasse lernen sollten“, sagt Römer. Das
seien Einwände, die er noch verstehen könne. Dann aber wurde die Debatte
hitziger: In einem Brief an die Schulleitung sprachen sich Eltern gegen
einen gemeinsamen Unterricht ihrer Kinder mit Flüchtlingskindern aus. „Wir
haben nichts gegen Flüchtlinge“, hieß es in dem Schreiben. Aber wegen
„schwieriger Hygiene-Verhältnisse“ in der Unterkunft könnten diese Kinder
allzu leicht Krankheiten übertragen. Dass alle Kinder einem
Gesundheitscheck unterzogen werden und gemeinsamer Unterricht auch gar
nicht vorgesehen war, ging in der Debatte unter. Am Ende konnte ein
Informationsabend, an dem auch Vertreter der Hamburger Gesundheitsbehörde
teilnahmen, gröbste Bedenken ausräumen.
## Kein offener Rassismus
In eine „rechte Ecke“ will Grundschulleiter Römer die besorgten Eltern
nicht stellen, das betont er immer wieder. Viele von ihnen seien selbst in
der Flüchtlingshilfe aktiv, und offener Rassismus begegne ihm nicht. Doch
er weiß auch: Käme es an seiner Schule zu einem Übergriff, wäre die
Aufregung groß. „Viele Eltern haben sachlich auf den Vorfall reagiert, sich
sofort gegen einen Zaun ausgesprochen. Trotzdem ist die Stimmung im
Stadtteil ein Stück weit gekippt, so wie in vielen Teilen Deutschlands. Da
brodelt vieles im Untergrund“, sagt er. Und fügt hinzu: „Manchmal fühle i…
mich wie auf einem Pulverfass.“
Hat sich die Stimmung verändert nach dem Vorfall am Gymnasium, aber auch
den Silvester-Übergriffen in Köln und auf dem Hamburger Kiez? Eine einfache
Antwort darauf gibt es wohl nicht. Aber in Ohlstedt fordern nun nicht alle
Eltern aus Angst vor sexuellen Übergriffen Zäume um die Schulen ihrer
Kinder.
Vera K.* hat ein Kind auf dem Gymnasium Ohlstedt, kennt die Umstände des
Übergriffs aus erster Hand. „Ich finde es schade, dass der Vorfall so an
die Öffentlichkeit geraten ist“, sagt sie, „und in den Medien derart
breitgetreten wurde.“ Für die betroffene Zehnjährige und ihre Eltern sei
der Rummel eine Belastung. „Die Eltern haben den Übergriff zwar bei der
Polizei angezeigt, die Schule aber bewusst nicht informiert. Sie wollten
Aufruhr vermeiden“, sagt K. – „auch weil sie eine Stigmatisierung ihrer
Tochter an der Schule fürchteten.“ Dann habe die Polizei die Schulleitung
in Kenntnis gesetzt und eine Polizeimeldung veröffentlicht, die „nicht ganz
stimmig“ gewesen sei: „Das Mädchen wurde nicht auf dem Schulhof, sondern
auf einem Fußgängerweg außerhalb des Gymnasiums angesprochen“, sagt K. –
nur ein Detail, das aber die öffentliche Wahrnehmung beeinflussen könne:
„So entsteht der Eindruck, dass sich plötzlich lauter Fremde auf dem
Schulgelände aufhalten.“
Unter den Ohlstedter Schülern ist inzwischen wieder Ruhe eingekehrt. Junge
Flüchtlinge, die in Räumen des Gymnasiums lernen, hätten sich nach
Bekanntwerden des Übergriffs nicht mehr auf den Schulhof getraut, sagt Lars
Römer. Heute habe sich die Lage entspannt.
## Keine Panik verbreiten
Anne Leitz’Kinder besuchen sowohl die Schule Am Walde als auch das
Gymnasium. „Sexuelle Übergriffe sollte man immer ernst nehmen, egal ob ein
Flüchtling oder ein Deutscher dahintersteckt. Ich habe seit dem Vorfall
aber nicht vermehrt Angst um meine Kinder“, sagt Leitz, die die
Kleiderkammer in der Erstaufnahme leitet. Schönreden wolle sie nichts, eine
Art Kulturvermittlung für junge Flüchtlinge sei nötig. „Wir sollten aber
keine Panik verbreiten und die Debatte sachlich führen, gerade vor dem
Hintergrund der Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof.“ In den Medien sei der
Ohlstedter Vorfall „hochgekocht“ worden, Leitz befürchtet, dass der Ort in
der Flüchtlingsdebatte instrumentalisiert wird.
Britta Freiht sieht das ähnlich. „Ich fühle mich nicht unsicherer, im
Gegenteil“, sagt die Sprecherin der Initiative „Ohlstedt hilft“. Die
Flüchtlingsunterkunft habe „den Stadtteil belebt und die Ohlstedter näher
zusammengebracht“. Und die Hilfsbereitschaft der Anwohner habe in den
vergangenen Wochen nicht abgenommen, so Freiht: „Wir haben gerade sogar
einen neuen Zulauf an Helfern, besonders in der Betreuung von Kindern und
Jugendlichen.“ Die Aktiven arbeiten weiter in straff organisierten
Schichtplänen, die Spenden stapeln sich.
Für Thomas Laube von der Initiative „Zukunft! Ohlstedt“ ist dagegen
„größere Vorsicht“ im Stadtteil spürbar. „Man sieht weniger Fahrräder…
den Straßen, Eltern bilden Fahrgemeinschaften, um die Kinder zur Schule
oder zum Reiten zu fahren“, sagt er. Aber eine pauschale Ablehnung von
Flüchtlingen? Diffuse Ängste habe es immer gegeben, sagt Laube. Gerade in
der Diskussion um eine mögliche Folgeunterkunft für Flüchtlinge überwiegen
aus seiner Sicht sachliche Argumente. „Wir fordern eine Politik mit
Augenmaß, zu viele Flüchtlinge könnten auch unseren Stadtteil überfordern�…
sagt Laube.
Der Sozialpädagoge Hamid Afghan betreut eine Lerngruppe Flüchtlingskinder
an der Grundschule. „Wir sagen den Kindern ganz offen, dass es ‚böse
Menschen‘ gibt und wie sie sich verhalten sollen, wenn sie angesprochen
oder angefasst werden: Nicht darauf eingehen, nicht mit Fremden sprechen,
sofort einem Lehrer Bescheid sagen.“ Zu ihrem Schutz müssten die Kinder
zwar informiert werden, aber auch „nicht in Panik versetzt“.
Römer hat vor allem eines gelernt: Klare Worte finden, keine
Missverständnisse aufkommen lassen, das ist in diesen Zeiten wichtiger denn
je. Weil die erste Klasse mit Flüchtlingskindern nicht an den normalen
Schulpausen teilnahm, warfen Helfer dem Schulleiter vor, die Kinder
abzuschotten. Ein Spiegel-Artikel verhärtete die Fronten, gar von
„Apartheid“ war plötzlich die Rede. „Alles Quatsch“, sagt Römer sicht…
verärgert. „Für die Betreuung einer Lerngruppe werden zwei Fachkräfte mit
einer 60-Prozent-Stelle eingestellt. Ein Sozialpädagoge fehlte noch, wir
wollten trotzdem schon loslegen.“ Also wurde der Stundenplan umgebaut, mit
nur einer Lehrkraft begann der Unterricht eine Stunde später, und die Pause
wurde versetzt. Drei Wochen ging das so, danach konnten auch die Kinder am
normalen Schulrhythmus teilnehmen.
„Ich wünsche mir weniger Aufgeregtheit in der Debatte“, sagt der
Grundschulleiter. Er wolle das Flüchtlingsthema in den Alltag einbinden,
„ohne Eventkultur“ und „ohne Verallgemeinerungen“. Nur so gelinge
Integration.
(*Name geändert)
24 Jan 2016
## AUTOREN
Annika Lasarzik
## TAGS
Flüchtlinge
Willkommenskultur
sexueller Übergriff
taz.gazete
Flüchtlinge
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