# taz.de -- Debatte Kapitalismus: Die Krise der Ökonomen | |
> Viele Wirtschaftsprofessoren verhalten sich wie Oberpriester: Sie stellen | |
> nur Behauptungen auf, Argumente fehlen gänzlich. | |
Bild: Occupy-Demonstranten wissen oftmals besser über den Kapitalismus Beschei… | |
Queen Elizabeth II. regiert seit mehr als 60 Jahren, aber denkwürdige | |
Zitate hat sie kaum geliefert. In Erinnerung geblieben ist nur eine Frage, | |
die sie nach dem Finanzcrash 2008 gestellt hat: „Wie konnte es passieren, | |
dass niemand diese Krise vorhergesehen hat?“ Genauso legendär ist die | |
Antwort der britischen Ökonomen. In einem dreiseitigen Brief kommen sie zu | |
dem Schluss: „Um die Sache zusammenzufassen, Ihre Majestät, war dies ein | |
Versagen der kollektiven Vorstellungskraft vieler kluger Menschen.“ | |
Die Queen ist nicht die Einzige, die sich wundert. Auch Kanzlerin Merkel | |
kann mit vielen Ratschlägen nichts anfangen, die sie von | |
Wirtschaftswissenschaftlern erhält. Im Sommer 2014 war sie nach Lindau | |
eingeladen, wo sich die Nobelpreisträger für Ökonomie trafen. Die Kanzlerin | |
schonte die Herren nicht. Höflich, aber deutlich warf sie ihnen vor, einen | |
absurden Wahrheitsanspruch zu vertreten. Die Ökonomen sollten „die | |
Ehrlichkeit haben, die Fehlerquoten oder die Unschärfen anzugeben, wenn man | |
es nicht ganz genau weiß“. | |
Wenig später machte sich die Kanzlerin über ein Herbstgutachten der „Fünf | |
Weisen“ lustig, weil die Mehrheit der Sachverständigen geschrieben hatte, | |
dass der Mindestlohn schuld sei, dass die Wirtschaft schwächelt. Nur: Der | |
Mindestlohn galt damals noch nicht. Die Kanzlerin merkte mit typischer | |
Süffisanz an, es sei „nicht ganz trivial zu verstehen, wie ein Beschluss, | |
der noch nicht in Kraft ist, jetzt schon die konjunkturelle Dämpfung | |
hervorrufen kann“. | |
Der Ratsvorsitzende Christoph Schmidt war noch Monate später schockiert, | |
dass die Kanzlerin es gewagt hatte, die Weisheiten der „Fünf Weisen“ zu | |
hinterfragen. Gegenüber Vertrauten kündigte er an, dass er das nächste Mal | |
„Argumente vorbereiten“ werde. Unfreiwillig hat Schmidt das zentrale | |
Problem benannt: Die Mainstream-Ökonomie weiß nicht mehr, was ein Argument | |
ist. Es werden einfach Behauptungen aufgestellt. Diese sogenannte | |
Neoklassik ist keine Wissenschaft, sondern ähnelt einer Religion, die | |
Glaubenssätze verkündet. | |
## Lehrbücher bedeuten Macht | |
Der Ökonom Fabian Lindner hat kürzlich in einem sehr lesenswerten Beitrag | |
für den Zeit-Blog „Herdentrieb“ die Tricks nachgezeichnet, mit denen sich | |
die Mainstream-Ökonomie gegen jede empirische Überprüfung immunisiert. | |
Einige dieser Strategien: Die Neoklassik flüchtet sich in Tautologien und | |
formuliert bewusst schwammig, unter welchen Bedingungen die eigenen | |
Vorhersagen gelten. So sind die Aussagen scheinbar immer wahr, und fertig | |
ist der Elfenbeinturm. | |
Viele Studenten ahnen, dass ihnen die Volkswirtschaftslehre ein Zerrbild | |
der Wirklichkeit vermittelt. Sie haben sich in einem „Netzwerk Plurale | |
Ökonomik“ zusammengeschlossen, um die einseitige Lehre zu reformieren. Am | |
vergangenen Wochenende organisierten sie eine Tagung in Berlin, die den | |
Titel „Teaching Economics in the 21st Century“ trug. | |
Durch viele Veranstaltungen zog sich die Frage: Was sollte in den | |
Lehrbüchern stehen? Es gehört zu den Wundern der Mainstream-Ökonomie, dass | |
noch immer die gleichen Lektionen erteilt werden, obwohl mehrere | |
Finanzkrisen gezeigt haben, dass die Modelle nicht stimmen können. | |
Lehrbücher bedeuten Macht. Wer die Studenten in den ersten Semestern prägt, | |
muss sich um seine Anhänger nicht mehr sorgen. Die Theorieschlacht ist | |
gewonnen. Die Frage nach den Lehrbüchern ist also zentral, und trotzdem | |
bleibt ein Unbehagen. Denn die pluralen Ökonomen wollen nur die Inhalte | |
verändern, nicht aber das Prinzip Lehrbuch abschaffen. | |
## Denken wird nicht gefördert | |
Doch Lehrbücher sind problematisch. Sie suggerieren, dass es eine | |
„Wahrheit“ gäbe – einen Inhalt, den man lernen könnte. Nicht das Denken | |
wird gefördert, sondern das nachahmende Verstehen. In den Lehrbüchern endet | |
jedes Kapitel mit einer Zusammenfassung, damit den Studenten ja nicht | |
entgeht, was sie bimsen müssen. Zudem bieten fast alle Autoren Aufgaben an, | |
für die es „Musterlösungen“ gibt. Diese Übungen zementieren den Eindruck, | |
dass die Volkswirtschaftslehre objektives Wissen liefert. | |
Nicht nur die Mainstream-Ökonomen, auch viele konkurrierende Keynesianer | |
gerieren sich in ihren Lehrbüchern, als wäre die Volkswirtschaftslehre eine | |
Naturwissenschaft, die der Physik ähnelt. Munter werden Modelle konstruiert | |
und mathematische Formeln entworfen, die man bis aufs Komma berechnen kann. | |
Angesichts dieser hypergenauen Zahlen gerät schnell in Vergessenheit, dass | |
es sich bei der Ökonomie um eine Sozialwissenschaft handelt, die nur | |
Deutungen liefern kann. | |
Zudem bringen es die mathematisierten Modelle mit sich, dass sie die | |
Realität reduzieren. Am besten lassen sich Gleichgewichte modellieren, doch | |
bekanntlich entwickelt sich die Wirtschaft dynamisch. Dieser Gegensatz wird | |
jedoch nicht als Problem der Theorie gedeutet, sondern der Wirklichkeit | |
angelastet. Was sich nicht modellieren lässt, kommt eben nicht vor. | |
## Wie entsteht Wachstum? | |
Laien erkennen sofort, was den Kapitalismus ausmacht. Es ist ein | |
Gesellschaftssystem, das Wachstum erzeugt. Doch so seltsam es klingen mag: | |
Die allermeisten Ökonomen können nicht erklären, wie Wachstum entsteht. Der | |
technische Wandel geschieht einfach und wird als „exogener Faktor“ | |
ignoriert. | |
Statt Modelle zu bauen, müssten die Volkswirte die Empirie erforschen. Wie | |
man es richtig macht, hat die Ökonomin Mariana Mazzucato vorgeführt: Sie | |
untersuchte konkret, wie es zu den technischen Erfindungen kam, die neue | |
Produkte wie Google, Smartphones oder komplexe Krebstherapien möglich | |
machten. Ergebnis: Die Forschung fand immer in staatlichen Laboren statt. | |
Die privaten Firmen haben „nur“ noch marktfähige Waren gebastelt. Steve | |
Jobs war besonders genial darin, staatliches Wissen in neue Produkte | |
umzusetzen – und den Gewinn zu privatisieren. | |
Mit ihrer empirischen Forschung hat Mazzucato ganz nebenbei auch die | |
Neoklassik ad absurdum geführt, die vom freien Markt träumt und den Staat | |
für störend hält. Übrigens benötigte Mazzucato keine einzige Formel, um | |
ihre wegweisenden Ergebnisse zu illustrieren. Und ein Lehrbuch hat sie auch | |
nicht geschrieben. | |
2 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
## TAGS | |
Kapitalismus | |
Neoliberalismus | |
Schwerpunkt Angela Merkel | |
Queen Elizabeth II. | |
Wirtschaftskrise | |
Wirtschaftsweisen | |
Universität | |
Wirtschaftskrise | |
Mindestlohn | |
Europäische Zentralbank | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Flucht | |
London | |
Europa | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Herbstgutachten der Wirtschaftsforscher: Export wird zur Achillesferse | |
Die Pandemie zeigt: Deutschlands Wirtschaft hat die Globalisierung zu weit | |
getrieben und sich zu sehr mit dem weltweiten Geschehen verzahnt. | |
Bildungskanon an der Uni: Crowdfunding gegen Neoklassik | |
Eine Initiative kritisiert die einseitige Ausrichtung der Wirtschaftslehre. | |
Sie ruft zu Spenden auf, um alternatives Lehrmaterial zu finanzieren. | |
Kommentar zur Konjunktur 2016: Krise? Welche Krise? | |
Jede Investition ist eine Wette auf die nächsten Jahre. Die Börsianer sind | |
für 2016 optimistisch – ihre Prognosen allerdings ziemlich fantasievoll. | |
Bezahlung von Geflüchteten: Sie sind Gold wert | |
Die Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen ist Arbeitgebern lästig, | |
ebenso der Mindestlohn. Nun werden Geflüchtete instrumentalisiert. | |
Geldpolitik der Europäischen Zentralbank: Mario gegen mau und mini | |
EZB-Präsident Draghi will das Anleihenkaufprogramm auf 1,5 Billionen Euro | |
und den Strafzins für Bankeinlagen erhöhen. Die Börse sackt ab. | |
Essay zu Klimakonferenzen: Besser als ihr Ruf | |
Jedes Land blickt auf die eigenen Interessen. Aber sind Klimaverhandlungen | |
deshalb überflüssig? Im Gegenteil: Sie sind erstaunlich effektiv. | |
Außengrenzen der EU: Der vergebliche Versuch zu regieren | |
Die Maßnahmen zur Grenzsicherung kosten die EU eine Menge Geld und Nerven. | |
Doch sie bringen nichts, weil man Menschen nicht aufhalten kann. | |
„Marsch der Millionen Masken“: Zusammenstöße in London | |
Es flogen Flaschen und Feuerwerkskörper, Polizisten stürzten vom Pferd. | |
Mehrere tausend Demonstranten haben in England gegen den Kapitalismus | |
protestiert. | |
Debatte Rechtsruck in Europa: Die Rechten sind die neuen Linken | |
Das Zentrum wird immer stärker. Europas Peripherie aber bleibt abgehängt. | |
Von dieser Ungleichheit profitieren nur die Rechtspopulisten. |