# taz.de -- Kommentar zur Konjunktur 2016: Krise? Welche Krise? | |
> Jede Investition ist eine Wette auf die nächsten Jahre. Die Börsianer | |
> sind für 2016 optimistisch – ihre Prognosen allerdings ziemlich | |
> fantasievoll. | |
Bild: Auch die Stahlindustrie erwartet 2016 einen Aufschwung. Aber: alles nur g… | |
Ein berühmtes Sprichwort besagt, dass von vier Wirtschaftskrisen acht | |
vorhergesehen wurden. Es ist unmöglich, zu prognostizieren, wie sich die | |
Konjunktur entwickeln wird. Trotzdem verzichtet niemand darauf, die Zukunft | |
dingfest zu machen, denn jede Investition und jeder staatliche | |
Haushaltsplan ist eine Wette auf die nächsten Jahre. Wie also wird 2016? | |
Die Börsianer sind optimistisch. Der DAX steht bei 10.728 Punkten und ist | |
damit seit Jahresbeginn um etwa 12,6 Prozent gestiegen. Dieser Höhenflug | |
ist gewagt, denn real ist die Wirtschaft in diesem Jahr nur um rund 1,7 | |
Prozent gewachsen. Was die Realität nicht hergibt, muss also die Fantasie | |
besorgen: Die Börsianer setzen darauf, dass künftig noch mehr Spekulanten | |
in die Aktien drängen und die Kurse weiter hochtreiben. Dieses Kalkül kann | |
jedoch nur aufgehen, wenn die Wirtschaft nicht einbricht. | |
Noch können die Börsianer beruhigt sein, denn auch die amtlichen Stellen | |
sind optimistisch. Die Bundesbank prognostiziert, dass die deutsche | |
Wirtschaft im nächsten Jahr um 1,8 Prozent wächst. Denn neuerdings ist ein | |
lange vermisstes Phänomen zu beobachten: Die deutschen Reallöhne steigen | |
und haben in diesem Jahr ein Plus von 2,4 Prozent erreicht. Die | |
Angestellten haben mehr Geld im Portemonnaie und können kräftig shoppen | |
gehen. | |
Diese Zahlen verdecken jedoch, dass der Aufschwung nur geborgt ist: Er ist | |
die Kehrseite der Eurokrise. Da die Wirtschaft der meisten Euroländer | |
dümpelt, liegen die Kreditzinsen bei fast 0 Prozent. Zudem ist der Eurokurs | |
stark gefallen, weil die amerikanische Wirtschaft stärker wächst als die | |
der Eurozone. Im Vergleich zum Dollar hat der Euro in den vergangenen | |
Jahren um 40 Prozent nachgegeben, sodass die europäischen Waren auf dem | |
Weltmarkt billig sind. Davon profitiert vor allem die Exportnation | |
Deutschland; gratis erhält sie ein gigantisches Konjunkturprogramm. | |
## Die Schwäche der anderen | |
Der deutsche Aufschwung ist real und dennoch schöner Schein: Es muss | |
irritieren, dass die Wirtschaft nicht stärker wächst, obwohl die Umstände | |
so günstig sind. Nicht nur die Zinsen und der Eurokurs sind niedrig – auch | |
der Ölpreis fällt. In diesem Jahr hat er um fast 30 Prozent nachgegeben und | |
liegt nun bei nur noch etwa 38 Dollar pro Barrel. Die Konsumenten freut es, | |
doch die Entwicklung ist erneut ein Zeichen der Schwäche. Energie wird | |
billiger, weil auch die Weltwirtschaft kaum zulegt. | |
Noch macht es Deutschland stark, dass die anderen schwach sind. Aber wie | |
lange? In der Eurozone sind inzwischen nicht nur die offiziellen | |
Krisenländer wie Spanien oder Griechenland in Schwierigkeiten – auch in | |
„Kerneuropa“ beginnt es zu bröckeln. Deutschland kommen die Partner | |
abhanden. | |
In Finnland ist die Stimmung schon so schlecht, dass 44 Prozent der Finnen | |
meinen, man hätte der Eurozone nie beitreten sollen. 31 Prozent wollen | |
wieder austreten – Tendenz steigend. | |
Die Probleme Finnlands werden gern als „typisch finnisch“ abgetan: | |
Nokia-Handys waren einst ein Exportschlager und sind nun technologisch | |
veraltet; infolge der Digitalisierung sinkt die Nachfrage nach finnischem | |
Papier, und außerdem entfällt der wichtige Handel mit Russland, seitdem die | |
Sanktionen gelten. Finnland will jetzt „Strukturreformen“ anpacken, um | |
seine Lohnstückkosten um 15 Prozent zu senken und wieder international | |
wettbewerbsfähig zu werden. | |
## Eine Wohlstandsinsel | |
Finnland hat nur 5,4 Millionen Einwohner. Man könnte seine Probleme leicht | |
ignorieren, wenn sich nicht eine ähnliche „Strukturschwäche“ auch in | |
Österreich zeigen würde, das mit zunehmender Arbeitslosigkeit kämpft. Daher | |
sind dort ebenfalls „Strukturreformen“ angedacht , um die Lohnstückkosten | |
zu drücken. Die Niederlande führen längst „Strukturreformen“ durch; | |
Frankreich und Italien peilen sie ebenfalls an. Letztlich versuchen alle | |
Euroländer, den deutschen Trick der „Agenda 2010“ zu wiederholen. Jeder | |
will sich in die Armut sparen, um dann reich zu werden – durch | |
Exportüberschüsse. | |
Das kann gar nicht funktionieren, obwohl Deutschland jetzt scheinbar | |
floriert. Aber Exportüberschüsse sind logischerweise nur möglich, wenn | |
andere Defizite haben. Wenn alle ihre Löhne drücken, sind am Ende alle arm. | |
Die Eurokrise wird ins Unendliche verlängert, sodass sich nicht nur die | |
Finnen fragen werden, ob es ein Fehler war, dem Euro beizutreten. | |
Deutschland ist eine Wohlstandsinsel. Das fühlt sich vielleicht gut an, ist | |
aber gefährlich. Denn blöd sind unsere Nachbarn nicht. Ihnen fällt auch | |
auf, dass nur die Deutschen vom Euro profitieren. Das werden sie sich | |
bezahlen lassen. | |
31 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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