# taz.de -- Debatte Rechtsruck in Europa: Die Rechten sind die neuen Linken | |
> Das Zentrum wird immer stärker. Europas Peripherie aber bleibt abgehängt. | |
> Von dieser Ungleichheit profitieren nur die Rechtspopulisten. | |
Bild: Soziale Verwerfungen? Na schau mal, wer da gleich zur Stelle ist. | |
Polen ist ein eigenartiges Land: Offiziell ist es die erfolgreichste | |
Wirtschaft im ehemaligen Ostblock – dennoch sind die Polen besonders | |
unzufrieden. Beim Thema „subjektives Wohlbefinden“ landen sie in | |
internationalen Umfragen weit hinten. | |
Diese Enttäuschung hat sich jetzt in einer Protestwahl entladen. Die | |
nationalistische Partei „Recht und Gerechtigkeit“ kann allein regieren, und | |
der fremdenfeindliche Rocksänger Paweł Kukiz hat weitere 9 Prozent der | |
Stimmen geholt. Linke Parteien hingegen sind gar nicht mehr im Parlament | |
vertreten – das ist einzigartig in Europa. | |
Die Rechten sind jetzt die neuen Linken: In Polen soll es | |
Steuererleichterungen für Familien und Geringverdiener geben, und auch das | |
Rentenalter, das jüngst auf 67 Jahre angehoben wurde, soll wieder sinken. | |
Doch nicht nur die polnischen Nationalisten machen Sozialpolitik. Diese | |
Mischung ist in vielen europäischen Ländern zu beobachten. Auch Marine Le | |
Pen in Frankreich oder die FPÖ in Österreich wollen die Einheimischen | |
beglücken – und „Fremde“ möglichst abweisen. | |
Europa radikalisiert sich, und zwar unabhängig davon, wie wohlhabend die | |
einzelnen Länder sind. Fast überall legen die Rechtspopulisten zu, und oft | |
beerben sie die Linken. Warum? | |
## Reichtum ist relativ | |
Um zunächst bei Polen zu bleiben: Dem Land scheint es eigentlich gut zu | |
gehen. Die Wirtschaft wächst rasant, und auch in diesem Jahr soll das Plus | |
3,6 Prozent betragen. Selbst in der Finanzkrise ist die polnische | |
Wirtschaft nicht etwa eingebrochen – sondern hat unvermindert zugelegt. In | |
keinem anderen EU-Land ist es im vergangenen Jahrzehnt so steil bergauf | |
gegangen. Aber Wachstum ist ein relativer Begriff. Wenn man arm startet, | |
dann bleibt man arm, auch wenn es vorwärtsgeht. Genau dieses Phänomen ist | |
in Polen zu beobachten: Pro Kopf beträgt die jährliche Wirtschaftsleistung | |
etwa 11.300 US-Dollar. | |
Allerdings würde es in die Irre führen, nur die Dollarbeträge zu | |
vergleichen. Denn in Polen lässt sich für den einzelnen Dollar deutlich | |
mehr kaufen als in den Vereinigten Staaten, weswegen man die sogenannte | |
Kaufkraftparität berücksichtigen muss. Real haben die Polen knapp 24.000 | |
Dollar in der Tasche, was aber immer noch relativ wenig ist: Die Deutschen | |
sind pro Kopf doppelt so reich. | |
An der Bildung liegt es übrigens nicht, dass die Polen ärmer sind als die | |
Deutschen: Es machen überdurchschnittlich viele Polen Abitur, und auch in | |
den Pisa-Tests schneiden sie überdurchschnittlich gut ab – besser als die | |
Deutschen. Doch wie reich ein Land ist, hat nichts mit der | |
Leistungsfähigkeit seiner Bewohner zu tun. Stattdessen ist eine | |
„Pfadabhängigkeit“ zu beobachten, wie es die Wissenschaftler nennen. Oder | |
wie es die Bibel ausdrückt: „Wer hat, dem wird gegeben.“ | |
## Konstanz der Ungleichzeitigkeit | |
Der Kapitalismus wächst vor allem in seinen Zentren, während die Peripherie | |
meist nicht aufholen kann. Das Reichtumsgefälle in Europa ist im | |
vergangenen Jahrhundert bemerkenswert stabil geblieben – trotz der Kriege | |
und wirtschaftspolitischer Experimente wie dem Sozialismus. | |
Diese Konstanz der Ungleichzeitigkeit zeigen Zahlen von 1936: Damals lag | |
die Wirtschaftsleistung pro Kopf in Deutschland bei 4.571 Dollar, in | |
Griechenland bei 2.501 Dollar, in Polen bei 1.625 Dollar, in Portugal bei | |
1.707 Dollar, in Ungarn bei 2.618 Dollar und in der Tschechoslowakei bei | |
2.599 Dollar. Inzwischen hat sich die Reihenfolge bei einigen Ländern zwar | |
umgekehrt – so ist Griechenland jetzt ärmer als Portugal –, aber an der | |
grundsätzlichen Struktur hat sich überhaupt nichts geändert. Deutschland | |
war schon 1936 etwa doppelt so reich wie die Peripherie. | |
Diese stabile Ungleichheit passt jedoch nicht zur europäischen Erzählung, | |
die auf „Kohäsion“ und „Konvergenz“ setzt. Der Peripherie wurde | |
versprochen, dass sie aufholen wird. Doch jetzt müssen die osteuropäischen | |
Länder erkennen, dass sie abgehängt bleiben. Die Ungarn haben sich schon | |
radikalisiert, nun folgen die Polen. | |
## Protektorate der Eurozone | |
Doch nicht nur die osteuropäische Peripherie ist vergleichsweise arm, auch | |
der südeuropäische Rand kommt nicht voran. In den Jahren ab 2000 sind | |
Griechenland und Portugal zwar deutlich gewachsen, doch handelte es sich | |
bekanntlich um eine reine Kreditblase, die in der Eurokrise geplatzt ist. | |
In beiden Ländern regieren bisher zwar keine Rechtspopulisten – sondern | |
gleich die Troika. Offiziell ist in Griechenland die linke Syriza an der | |
Macht, aber faktisch ist es zu einer Kolonie der Eurozone geworden, die | |
detailliert vorschreibt, welche Gesetze das griechische Parlament zu | |
verabschieden hat. Auch in Portugal gibt es eine linke Mehrheit, die aber | |
bisher nicht regieren darf, weil der Staatspräsident um die Vereinbarungen | |
mit der Eurozone fürchtet. Portugal wird damit ebenfalls zu einem | |
Protektorat der Eurozone. Es wäre verwunderlich, wenn sich Griechen und | |
Portugiesen nicht irgendwann radikalisieren würden, um gegen diese | |
Bevormundung zu protestieren. | |
Aber nicht nur an der Peripherie knallt es, auch im reichen Zentrum der EU | |
werden die Nationalisten stärker. Besonders bedrohlich ist es in | |
Frankreich, wo Marine Le Pen zur mächtigsten Politikerin aufsteigt. | |
In Deutschland ist die Haltung weit verbreitet, die Probleme dort zu | |
verorten, wo sie sichtbar werden. Nach dem Motto: Wenn Frankreich nach | |
rechts rutscht, dann müssen die Franzosen selbst schuld sein. Dabei tragen | |
die Deutschen kräftig dazu bei, dass sich ihr Nachbar radikalisiert. Die | |
Deutschen haben einen Wirtschaftskrieg angezettelt, indem die Reallöhne | |
nach unten gedrückt wurden – was nun zu enormen Exportüberschüssen führt. | |
Überschüsse kann es aber nur geben, wenn woanders Defizite entstehen, und | |
sie laufen unter anderem in Frankreich auf. Also wird den Franzosen nichts | |
anderes übrig bleiben, als ihre Gehälter zu senken – was immer die Ärmsten | |
am stärksten trifft. Der Zulauf für Marine Le Pen ist gesichert. | |
## Keine Kinder – ohne Chance | |
In Europa wird gern die „Wertegemeinschaft“ beschworen, doch dieser | |
moralische Diskurs vernebelt die Realität: Europa wurde und wird durch das | |
Versprechen zusammengehalten, Wohlstand zu erzeugen. Doch stattdessen nimmt | |
die Not zu. Wie die Bertelsmann-Stiftung jüngst in einer Studie | |
nachgezeichnet hat, sind fast 30 Prozent aller unter 18-Jährigen von Armut | |
und Ausgrenzung bedroht. | |
Dieser Befund ist sogar noch alarmierender, als er klingt, denn es gibt | |
kaum Jugendliche: Ob in Griechenland, Polen, Rumänien, Deutschland oder | |
Spanien – die Geburtenrate liegt nur noch bei etwa 1,3 bis 1,5 Kindern pro | |
Frau. Europa hat fast keine Kinder, aber diese Kinder haben keine Chance. | |
Die EU hat stets den Eindruck erweckt, als müsse man nur auf den „Markt“ | |
setzen, damit sich die ökonomischen Probleme von allein lösen und jeder | |
Bürger sein Auskommen hat. Diese Erzählung war immer falsch, wurde aber | |
europaweit von allen etablierten Parteien vertreten – auch von vielen | |
Sozialdemokraten. Munter wurde dereguliert und bei der Sozialversicherung | |
zusammengestrichen. So können sich jetzt die Rechtspopulisten als die | |
wahren Vertreter des Volkes inszenieren: Es ist kein Zufall, dass es in | |
Polen zum Thema wurde, dass das Rentenalter wieder auf 65 Jahre sinken | |
soll. | |
## Die Macht des Faktischen | |
Der Siegeszug der Rechtspopulisten ist in vielen Ländern wahrscheinlich | |
nicht mehr aufzuhalten. Aber es gibt auch Trost, obwohl er manchmal nur | |
noch zynisch ist. Die EU wird nicht auseinanderbrechen, denn sie ist mehr | |
als ein „Markt“ oder eine „Wertegemeinschaft“. Sie ist faktisch auch ein | |
Verteidigungsbündnis. Schon aus Angst vor den Russen würden Polen oder | |
Ungarn niemals die EU verlassen. | |
In der Vergangenheit war Nationalismus vor allem deswegen so gefährlich, | |
weil daraus jederzeit Krieg entstehen konnte. Doch jetzt fehlen die | |
Soldaten, die man opfern könnte. Wenn pro Frau nur noch 1,3 Kinder geboren | |
werden, dann sind die Söhne zu kostbar, um sie auf einem Schlachtfeld zu | |
verheizen. | |
Und schließlich gibt es die Macht des Faktischen. Die Einwanderer werden in | |
Europa bleiben, und es werden noch mehr Migranten kommen. Auch wird es den | |
Deutschen nichts nutzen, Exportüberschüsse anzuhäufen, denn damit | |
alimentiert man nur Finanzkrisen in anderen Ländern, und am Ende ist das | |
schöne Geld wieder weg. | |
Es sei den Polen also gegönnt, dass sie selbst keinen einzigen Einwanderer | |
aufnehmen wollen – es aber völlig selbstverständlich finden, dass knapp | |
700.000 Polen in Deutschland leben und mindestens 700.000 in | |
Großbritannien. | |
Nationalisten waren noch nie widerspruchsfrei, und daran werden sie | |
irgendwann scheitern. | |
1 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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