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# taz.de -- Prävention gegen Radikalisierung: Die Frage nach dem Wie
> Die Regierung will verstärkt gegen die Radikalisierung junger Muslime
> vorgehen. Doch wie kommt man an sie ran, bevor es zu spät ist?
Bild: Anhänger jubeln in der Innenstadt von Frankfurt am Main dem salafistisch…
Mainz/Düsseldorf/Berlin taz | Normalerweise gibt Hatice Schmidt
Beauty-Tipps. Fast 100.000 Zuschauerinnen haben ihren YouTube-Kanal
abonniert, in den Videos geht es mal um ein dramatisches Augen-Make up, mal
um den perfekten Einsatz von Puder oder Highlighter. Dieses Mal aber
behandelt sie ein ganz anderes Thema.
„Hi, Leute“, sagt Hatice Schmidt, lange dunkle Haare, große Brille, „heu…
möchte ich mit euch über den Islam sprechen.“ Von Terrorismus, Salafismus
und Dschihad sei derzeit viel die Rede, aber das könne doch nicht alles
sein. Hatice Schmidt, 29 Jahre alt, selbst Muslima, und ihr Comic-Ich
begeben sich auf die Suche nach der Umma, der islamischen Gemeinschaft. Ihr
Fazit nach gut drei Minuten Video: Diese Gemeinschaft sei so vielfältig wie
die Menschheit selbst.
Thomas Krüger hat das Video an die Wand werfen lassen. Der Chef der
Bundeszentrale für politische Bildung steht an einem Pult im großen Saal
des Mainzer Schlosses, das Bundeskriminalamt hat zur Herbsttagung geladen.
600 Gäste sind gekommen, Polizisten, Justizbeamte, Politiker, auch
Bundesinnenminister Thomas de Maizière ist dabei und Verfassungsschutzchef
Hans-Georg Maaßen. Das Thema: Prävention gegen islamistischen Terrorismus.
Am Morgen hat BKA-Chef Holger Münch eine nationale Präventionsstrategie
gefordert. Es ist der Mittwoch der vergangenen Woche, die Anschläge in
Paris sind gerade fünf Tage her, am Abend zuvor wurde das
Freundschaftsspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden in Hannover
kurzfristig abgesagt. Terrorgefahr.
## Das Gegenangebot zu Pierre Vogel
Die Bundeszentrale hat Schmidts Video finanziert, als Teil einer ganzen
Reihe über „Begriffswelten Islam“. [1][Einen Clip über das Kalifat mit dem
YouTube-Star LeFloid], der fast 3 Millionen Abonnenten hat, gibt es
bereits. „Jugendliche sollen motiviert und befähigt werden, mündig,
kritisch und aktiv an den Debatten zum Thema Islam teilzuhaben und sich
eine eigene Meinung zu bilden“, sagt Krüger. Für ihn ist das eine Maßnahme
gegen die Ausbreitung extremistischer Ideologie. Und damit wohl auch ein
Gegenangebot zu Pierre Vogel und dem Verein „Die wahre Religion“, die die
bekanntesten salafistischen Seiten im Netz betreiben.
Die Täter der Pariser Anschläge sind zum großen Teil Europäer. Junge
Männer, die in Frankreich und Belgien aufgewachsen sind, sich dort
radikalisierten. Einige von ihnen zogen in den Dschihad nach Syrien und
kehrten im Auftrag der Terrormiliz „Islamischer Staat“ zurück. Gemeinsam
töteten sie 130 Menschen und verletzten viele weitere schwer. Ein Anschlag,
da sind sich die Sicherheitsbehörden einig, könnte auch in Deutschland
geschehen.
Deshalb schauen sie mit Sorge auf die sogenannten islamistischen Gefährder,
auf die Ausreisen mit dem heiligen Krieg und die Rückkehrer. Und auf die
salafistische Szene, die stetig wächst. Auch, wenn nicht alle Salafisten
gewaltbereit sind. Dort, wo ein vermeintlich ursprünglicher Islam gepredigt
wird, liegt das Rekrutierungspotenzial der Dschihadisten. Die Frage ist:
Wie kommt man an diese Leute ran, bevor es zu spät ist?
Den Sicherheitsbehörden ist inzwischen klar: Um Anschläge zu verhindern und
den Salafisten ihre Attraktivität für junge Menschen zu nehmen, braucht es
mehr als Polizei und Justiz. Vielleicht können ja Videoclips zumindest
einen kleinen Beitrag leisten, und zwar schon zu einem Zeitpunkt, in dem
der Terror noch weit entfernt scheint.
## Wie viele Projekte es gibt, kann niemand sagen
Vierzehn Jahre nach 9/11 steht die Prävention gegen islamistische
Radikalisierung in Deutschland noch am Anfang. Eine Gesamtstrategie gibt es
nicht, stattdessen einen Flickenteppich an Angeboten, weitgehend
unkoordiniert, oft schlecht finanziert und überfordert.
Wie viele Projekte es bundesweit gibt, kann niemand sagen. Einige wenige
bekommen Geld vom Bundesinnenministerium, deutlich mehr aus dem
Jugendressort. Die Prävention in Deutschland, urteilt der renommierte
Terrorismusforscher Peter Neumann vom Londoner King’s College, sei „Kraut
und Rüben“.
„Es wurde viel Zeit vertan“, sagt die Kriminalistin Wiebke Steffen. Der
salafistische Prediger Pierre Vogel füllte bereits öffentliche Plätze,
junge Männer zogen von Deutschland aus in den Dschihad, aber viele
Politiker verkannten oder ignorierten die Gefahr. Bei den Ursachen der
Radikalisierung stochere man noch immer im Nebel, so Steffen, und die
Arbeit sei oft „wenig professionell“. Dabei ist in der Prävention die
Gefahr groß, durch Fehler das Problem zuzuspitzen.
Erst im vergangenen Jahr haben die ersten Bundesländer Präventionsprogramme
aufgelegt, Hessen etwa und Nordrhein-Westfalen. Einige Kommunen engagieren
sich, manche erst, nachdem viele junge Männer und Frauen von dort nach
Syrien ausreisten.
## Drei Stufen der Prävention
Prävention findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Experten
unterscheiden zwischen der universellen Prävention, die sich wie die Videos
der Bundeszentrale an keine bestimmte Gruppe richtet. Das Ziel: sie
gegenüber radikalen Ideologien zu sensibilisieren. Die zweite Stufe, die
selektive Prävention, zielt auf jene, die bereits ein Risiko aufweisen, bei
der dritten Stufe spricht man von Deradikalisierung.
Ufuq ist ein Träger aus Berlin-Neukölln, den zwei Islamwissenschaftler 2007
gegründet haben. Sein Ziel: nicht mehr über die „Einbürgerung des Islam“
diskutieren, sondern diese gestalten. Inzwischen wird Ufuq – „Horizont“ a…
Arabisch – bundesweit als Ansprechpartner für die pädagogische Arbeit zu
den Themen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus geschätzt – und rege
angefragt. Meist kommen die E-Mails oder klingelt das Telefon, wenn es
Probleme gibt.
Wie wollen wir leben?, lautet die Leitfrage, mit der Ufuq-TeamerInnen, oft
selbst mit muslimischem Hintergrund, in Schulklassen oder
Jugendeinrichtungen gehen. Je nach Zusammensetzung der Jugendlichengruppe
wird das Konzept modifiziert. Filme zu Themen wie Scharia und Grundgesetz,
Islamfeindlichkeit oder Geschlechterrollen stoßen die Diskussion an. Wie
wollen Mädchen und Jungen zusammenleben? Ist es richtig, dass Mädchen
weniger dürfen als Jungen? Und welche Rolle spielt dabei die Religion? Über
solche Fragen wird dann diskutiert.
„Wir geben den Jugendlichen Raum, über ihre Vorstellungen von
Zugehörigkeit, Identität und Religion zu sprechen“, sagt Götz Nordbruch,
einer der beiden Ufuq-Gründer. Das seien Fragen, die viele umtreiben – und
auf die sie oft keine Antworten fänden. Weder bei den Eltern noch in der
Moschee oder der Schule. „In Städten wie Berlin, Hamburg oder Bremen sind
viele Lehrer nicht bereit, religiöse Themen aufzugreifen, weil sie eine
klare Trennung zwischen Schule und Religion wollen“, sagt Nordbruch. Doch
die Jugendlichen beschäftige der Islam, und zwar oft gar nicht, weil sie
religiös seien, sondern als Frage ihrer Identität. Jugendliche, die sich
damit auseinandersetzen, sagt Nordbruch, seien weniger anfällig für die
einfachen Weltbilder der Salafisten.
## Benachteiligung? Diskriminierung? Fehlende Bildung?
Lange musste sich Ufuq von Projekt zu Projekt hangeln, immer in Sorge um
die weitere Finanzierung. Seit diesem Jahr bekommt der Verein – wie 26
andere Träger – strukturelle Förderung aus dem Bundesjugendministerium.
Fünf Jahre lang. „Ein echte Erleichterung“, sagt Nordbruch.
Insgesamt gibt das Ministerium im Rahmen des Programms „Demokratie leben!“
in diesem Jahr 5,8 Millionen Euro für Prävention gegen islamistischen
Extremismus aus, in den Jahren zuvor waren es durchschnittlich 2 Millionen.
Im kommenden Jahr werden es 7,5 Millionen Euro sein.
Ufuq, so der Arbeitsauftrag, soll wissenschaftliche Erkenntnisse in die
pädagogische Praxis überführen. Allerdings sind diese rar gesät. Michael
Kiefer ist Islamwissenschaftler an der Uni Osnabrück, seit vielen Jahren
ist er sowohl in der Wissenschaft als auch in der Jugendarbeit aktiv.
Letztlich, sagt er, wisse man wenig darüber, wie islamistische
Radikalisierung wirklich ablaufe – und wo Prävention sinnvoll ansetzen
kann. „Da gibt es viele ungedeckte Behauptungen, nur wenig ist
wissenschaftlich wirklich belegt.“ Dann zählt er auf: soziale
Benachteiligung? Diskriminierung? Fehlende religiöse Bildung? Das könne
alles eine Rolle spielen. Für jeden dieser Faktoren lassen sich aber auch
Gegenbeispiele finden.
Das Jugendministerium fördert jetzt einen Forschungsverbund, an dem das
Institut für Islamische Theologie an der Uni Osnabrück, das Institut für
Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld und
das Deutsche Jugendinstitut beteiligt sind. Wie radikalisieren sich
Menschen? Wie kann dieser Prozess unterbrochen oder gar umgedreht werden?
Solchen Fragen wollen sie nachgehen. Die Bielefelder um Professor Andreas
Zick untersuchen dafür Gerichtsakten. Die Osnabrücker, darunter Kiefer,
befragen Leute aus Dinslaken-Lohberg, die sich entweder selbst
radikalisiert haben oder mit Radikalisierten verwandt oder befreundet sind.
Und das Deutsche Jugendinstitut macht Interviews. Die ersten Ergebnisse
sollen im Frühjahr 2017 vorliegen.
Ufuq hat inzwischen zehn Mitarbeiter auf sechseinhalb Stellen, gerade hat
der Träger ein zweites Büro in Augsburg eröffnet, von dort sollen im
Auftrag der bayerischen Landesregierung Einrichtungen vor Ort beraten und
vernetzt werden: Schulen und Jugendeinrichtungen, aber auch
Wohlfahrtsverbände und die Polizei. Dabei gehe es nicht nur um die Arbeit
mit jungen Leuten, sondern auch um Veränderungen in den Institutionen
selbst, sagt Nordbruch.
## „Ich bin kein Salafist mehr“
Dominic Schmitz, 28, graues Sweatshirt, gegelte Haare, gestutzter
Backenbart, ist nicht im Auftrag eines staatlich geförderten Trägers
unterwegs, sondern in eigener Mission. Er guckt direkt in die Kamera,
hinter ihm hängt ein schwarz-weißes Fotoposter mit dem immer gleichen
Frauenmund an der Wand, nur die Lippen sind in verschiedenen Knallfarben
geschminkt. [2][“Ich bin kein Salafist mehr“, sagt Schmitz ruhig in dem
YouTube-Video, „aber ich bin immer noch Muslim.“] Seinen Glauben, sein
Denken, sein Handeln, all das wolle er sich nicht mehr von Anderen
vorschreiben lassen.
Schmitz ist mit 17 zum Islam konvertiert und als Musa Almani schnell in die
salafistische Szene gerutscht. Er war die rechte Hand des Predigers Sven
Lau, der wie er aus Mönchengladbach stammt. Mit Pierre Vogel ist Schmitz
nach Mekka gepilgert. Es gibt ein Video, in dem Vogel ihn zu seiner
Konversion befragt, ins Netz gestellt als Beleg der erfolgreichen
Missionsarbeit. Schmitz trägt ein traditionelles Gewand und eine
Gebetsmütze, er ist gerade 18 Jahre alt. „Ich bin so glücklich wie noch nie
in meinem Leben“, sagt er.
„Ich hab Antworten gegeben wie auswendig gelernt“, so sieht es Schmitz
heute.
Er warnt nun mit YouTube-Clips vor seinen alten Gefährten. Seine Videos
sind eine Mischung aus Predigt und Pop. Mal spricht er nüchtern, mal rappt
er, mal verkleidet er sich, um in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Er
weiß, was die Salafisten so attraktiv für junge Leute macht: die
Orientierung, die Gemeinschaft, der Sinn, das Gefühl, besser zu sein. „Das
hat mich sehr erhöht“, sagt er. „Ich hatte damals wenig Selbstbewusstsein.…
## Leute, lasst das sein!
Irgendwann aber habe er sich „wie ein Roboter gefühlt“. Langsam hat er sich
dann von der Szene gelöst. Einer der Schlüsselmomente dabei: als einer
seiner Freunde nach Syrien in den Dschihad zog. Gewalt passt für ihn nicht
zum Islam. Schmitz tritt auch auf Fortbildungen für PädagogInnen und in
Schulklassen auf. Ein Glücksfall für die Prävention.
Ein echter Joker sind Aussteiger, die noch weiter gegangen sind als
Schmitz. Ein verurteilter Extremist etwa, der in der Szene glaubwürdig ist
und sagt: Leute, lasst das sein! Ich hab da einen schweren Fehler gemacht.
In England gibt es solche Aussteiger bereits, in Deutschland hat man mit
Nazi-Aussteigern gute Erfahrungen gemacht, nach einem islamistischen suchen
die Sicherheitsbehörden seit Langem. Ebrahim B., der derzeit in Celle vor
Gericht steht, könnte ein solcher Joker werden.
B., 26, ist einer von mindestens 20 jungen Männern, die seit 2013 von
Wolfsburg nach Syrien ausgereist sind. Ein Anwerber des IS hatte sie
rekrutiert.
B. soll sich laut Anklage von Anfang Juni bis Ende August 2014 dem
„Islamischen Staat“ angeschlossen haben und bereit gewesen sein, als
Selbstmordattentäter zu sterben. Irgendwann aber setzte er sich ab. Direkt
nach seiner Festnahme will B. angeboten haben, gegen den IS auszusagen.
Noch vor Prozessbeginn hat er Journalisten ein Interview gegeben, die ARD
hat es ausgestrahlt. B. ist der erste Rückkehrer, der öffentlich und
ausführlich über seine Zeit bei der Terrorgruppe spricht, von der
Gewalttätigkeit und Grausamkeit des IS berichtet. Er wolle andere davon
abzuhalten, sich dem IS anzuschließen, sagt B. Vermutlich erhofft er sich
auch eine geringere Strafe. Das Urteil soll Ende des Jahres fallen.
## Dezentrale Organisation der Präventionsarbeit
Kiefer, der Islamwissenschaftler aus Düsseldorf, würde sich freuen,
jemanden wie B. für seine Arbeit zu gewinnen. Wichtiger für ihn ist aber
die Art und Weise, wie die Präventionsarbeit organisiert ist: dezentral, so
wie „Wegweiser“, das nordrhein-westfälische Programm. Kiefer ist im
Vorstand von Wegweiser Düsseldorf, einem der ersten vier Standorte, an vier
weiteren wird derzeit gearbeitet. „Du musst die Akteure vor Ort kennen,
damit es funktioniert“, sagt er.
In Fortbildungen versorgt Wegweiser Lehrer und Sozialarbeiter mit dem
notwendigen Wissen und dem Handwerkszeug. Fällt den Pädagogen bei einem
Jugendlichen etwas auf, können sie sich an die Beratungsstelle wenden.
„Manche Lehrer reagieren lange gar nicht, andere gleich sehr hysterisch“,
sagt Kiefer.
Am Anfang müsse also eine solide Recherche stehen: Was ist wirklich
passiert? Hat sich das Verhalten des Jugendlichen verändert? Ist es eine
besorgniserregende Entwicklung? Kiefer und seine Kollegen beraten,
durchführen müssten den Prozess aber die jeweiligen LehrerInnen und
SozialarbeiterInnen. „Prävention muss Teil des regulären pädagogischen
Handelns werden“, sagt Kiefer.
Liegt bereits eine Radikalisierung vor, steigen die Fachleute von Wegweiser
stärker ein. Einbezogen werden stets alle, die notwendig sind: Eltern und
Geschwister, Lehrer und Sozialarbeiter, Freunde, der Fußballtrainer, der
Imam. Die Sicherheitsbehörden? „Nur, wenn es um Straftaten geht“, so
Kiefer.
## Alternativen anbieten
Vieles davon sei klassische Sozialarbeit, die von Profis gemacht werden
müsse, sagt Kiefer. „Das ist nichts für Amateure, da hast du schnell viel
falsch gemacht und damit die Entwicklung verstärkt.“ Ein Beispiel: An einer
Schule haben Schüler Flyer verteilt, wie sich muslimische Jungen und
Mädchen zu kleiden und zu verhalten haben. Manchen ihrer MitschülerInnen
passte das nicht. Irgendwann kamen die Schüler im traditionellen Gewand und
mit Gebetsmützen, was die Schulleitung ihnen untersagte. Das Ergebnis: Die
Schüler, die die Jungen vorher kritisiert hatten, unterstützten sie jetzt.
Sie hatten das Gefühl, die Schule wende sich gegen den Islam. Die Schule
erreichte also das Gegenteil von dem, was sie wollte.
„Wenn du jemanden aus der Szene rauslösen willst, musst du Angebote
machen“, sagt Kiefer. „Der verliert mit einem Schlag sein bisheriges Leben
und wahrscheinlich alle seine Freunde.“ Es ist eine intensive Arbeit, bei
der eine Bindung entstehen muss. Der Sozialarbeiter trifft sich über Monate
zwei- bis dreimal in der Woche mit dem Betroffenen, Kollegen helfen bei der
Suche nach einer Wohnung oder einem Ausbildungsplatz.
Das Violence Prevention Network (VPN) ist einer der großen Player in der
Islamismus-Prävention, 50 feste MitarbeiterInnen, dazu freie. Thomas Mücke
ist einer der beiden Geschäftsführer. Der 56-Jährige, ein hochgewachsener
Mann mit kahlem Schädel, weiß, wovon er spricht. Seit 1989 arbeitet er mit
radikalisierten Jugendlichen, zunächst mit Rechtsextremen, seit 2007 auch
mit Islamisten.
Bei der bundesweiten Hotline für Angehörige, die seit 2012 beim Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge geschaltet ist und vom Innenministerium
bezahlt wird, ist VPN eine der vier Beratungsstellen, an die die
Anruferinnen und Anrufer weitervermittelt werden.
Menschen wie Marlies Peter, die in Wirklichkeit anders heißt. Sie hatte
schon lange Veränderungen bei ihrem 16-jährigen Sohn beobachtet. Erst
konvertierte er zum Islam, dann zog er sich von seinen Freunden zurück,
immer häufiger war er auf islamistischen Websites unterwegs. Mit der Mutter
gab es zunehmend Streit. Als er eines Tages verschwunden war, rief Peter
bei der Hotline an. Sie fürchtete, ihr Sohn könne nach Syrien ausgereist
sein. „Das ist ein ganz typischer Fall“, sagt Mücke, der die Geschichte der
Peters leicht verändert erzählt, damit sie nicht identifizierbar ist.
## Die Rückkehr ins normale Leben
VPN übernahm die Betreuung der Familie. Irgendwann meldete sich der Sohn
aus Syrien, er war fertig, wollte zurück. Gemeinsam mit den Eltern plante
VPN jeden Schritt. Der Junge floh schließlich in die Türkei, wo die Eltern
ihn abholten. Jetzt arbeitet VPN daran, ihn von extremistischer Ideologie
und Gewaltbereitschaft abzubringen, seine Zweifel an dem geschlossenen
Weltbild der Salafisten zu verstärken. Das Ziel: die Rückkehr ins normale
Leben.
Eine Stelle für die Angehörigenarbeit wird vom Bundesinnenministerium
finanziert, sie soll von Frankfurt aus den ganzen Südwesten der Republik
abdecken. Der Bremer Verein Kitab ist mit zwei halben Stellen für ganz ganz
Norddeutschland zuständig.
Insgesamt 136 Angehörige hat VPN in diesem Jahr betreut, jede Woche kommen
neue Fälle hinzu. Machbar sei das nur, sagt Mücke, weil VPN seit dem
vergangenen Jahr in Hessen zugleich das „Präventionsnetzwerk gegen
Salafismus“ betreibe.
Seitdem machen die Mitarbeiter alles vom Schulworkshop bis zur
Deradikalisierungsarbeit mit verurteilten Syrienrückkehrern im Gefängnis.
In diesem Jahr hat VPN auch das Berliner Landesprogramm übernommen, Bayern
und Baden-Württemberg könnten bald folgen. Findet man bei einer so
schnellen Expansion überhaupt genug geeignetes Personal? Mücke nickt. Dank
der langjährigen Erfahrung sei VPN gut vernetzt. Andere sind da
skeptischer. Beim Verein Ufuq etwa heißt es, es sei derzeit schwierig,
geeignete BewerberInnen für eine freie Stelle zu finden.
Wie Kiefer und Nordbruch hält auch Mücke von einer nationalen
Präventionsstrategie nicht viel, notwendig aber sei ein Fachaustausch auf
Bundesebene. Und zwar dringend. Mücke weiß: Beim Kampf gegen den
Rechtsextremismus dauerte es über zehn Jahre, bis man von einer
funktionierenden Prävention sprechen konnte. Diese Zeit haben wir jetzt
nicht.
29 Nov 2015
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=1D0j70BwjbM
[2] https://www.youtube.com/watch?v=wDr7CuXwTFY
## AUTOREN
Sabine am Orde
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