| # taz.de -- Sonderermittler im NSA-Auschuss: Kampf um die Selektoren | |
| > Kurt Graulich wirft der NSA schwere Verstöße vor. Das Gremium ist dennoch | |
| > entzweit über den Auftritt des Rechtsexperten. | |
| Bild: Sonderermittler Graulich vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages. | |
| Berlin taz | Ganz allein sitzt Kurt Graulich an dem weiten Rund des | |
| Zeugentischs, sein schwarzer Fahrradhelm links auf dem Tisch, rechts ein | |
| Glas Wasser, zwischendran stapelweise Papiere. Graulich legt die Brille | |
| beiseite und setzt erst mal zu einem Vortrag an, fast eine Stunde lang, | |
| gespickt mit Fachbegriffen und Paragrafen. Graulich macht klar, was von | |
| seiner Arbeit zu halten ist. „Mich beeindruckt keine schlechte Presse und | |
| kein Bundesnachrichtendienst. Ich mache nur meine eigene Arbeit.“ | |
| Graulich sucht das Bild des Quergeists, des Unabhängigen. Genau das aber | |
| steht am Donnerstag zur Debatte. Vier Monate lang hatte der frühere | |
| Bundesverwaltungsrichter als Sonderermittler Tausende NSA-Spähbegriffe | |
| durchforstet. Am Nachmittag stellt er im NSA-Untersuchungsausschuss des | |
| Bundestags seinen Abschlussbericht vor, 262 Seiten stark. | |
| Es ist ein kleines Finale der größten Affäre, die der Ausschuss, der seit | |
| April 2014 tagt, bisher selbst ausgegraben hat: Das Einschleusen Tausender | |
| illegaler NSA-Suchbegriffe in die BND-Analysesysteme. Erst Anträge des | |
| Gremiums brachten die Praxis ans Licht. | |
| Das Bekanntwerden hatte im Frühjahr den BND ins Schlingern gebracht – und | |
| das Kanzleramt mit. Was wusste man dort über die Spionage gegen europäische | |
| und deutsche Ziele? War der BND entglitten? Vizekanzler Sigmar Gabriel | |
| (SPD) sprach von einem Fall, der eine „schwere Erschütterung“ auslösen | |
| könne. Am Ende bestimmte die Regierung eine „Vertrauensperson“, die | |
| exklusiv die Spähliste, neben BND und Kanzleramt, auswerten sollte: Kurt | |
| Graulich. | |
| ## Die Opposition protestiert | |
| Kann das gehen? Ein unabhängiger Kontrolleur, unter Regierungs Gnaden? | |
| Schon vor Graulichs erstem Wort trägt der Grünen-Obmann im Ausschuss, | |
| Konstantin von Notz, eine Protestnote vor. Die Opposition nehme „nur mit | |
| Vorbehalten“ an der Anhörung teil. Das Gutachten ersetze nicht die | |
| Parlamentsarbeit, man bestehe darauf, die Liste selbst einzusehen. An | |
| Graulichs Unabhängigkeit gebe es „erhebliche Zweifel“, sagt von Notz. Die | |
| Linke Martina Renner nennt dessen Expertise eine „bestellte Auftragsarbeit | |
| der Bundesregierung“. Der SPD-Obmann Christian Flisek, dessen Partei auch | |
| Graulich seit 1970 angehört, lobt den Ermittler dagegen als „unabhängig und | |
| fachlich fundiert“. | |
| Graulich selbst versucht Zweifel zu zerstreuen. Er trägt selbstbewusst vor, | |
| verweist auf seine langjährige Richter-Vita. Den Vorwurf, er habe in seinem | |
| Bericht Teile aus einem BND-Rechtsgutachten abgeschrieben, weist er zurück: | |
| Darüber müsse er „herzlich lachen“. Die Rechtspositionen vertrete er schon | |
| lange. Später lobt Graulich auch eine laufende Verfassungsklage der | |
| Opposition, selbst die Spähliste zu erhalten. Er nennt die Versuche, | |
| europäische Ziele über den BND auszuspähen, eine „schiere Katastrophe“. | |
| Aber er sagt auch: „Insgesamt lag das alles im Promillebereich.“ | |
| ## 14 Millionen Suchbegriffe | |
| Über den Sommer hatte der 65-Jährige, der erst im Februar als Richter in | |
| Rente gegangen war, Spezialgebiet Geheimdienstrecht, die NSA-Spähliste | |
| auseinandergenommen. In einem Büro in der Berliner BND-Zentrale selbst: | |
| fünf Zimmer, eine Küche, eine Handvoll Mitarbeiter aus dem Geheimdienst. | |
| 39.000 sogenannte Selektoren lagen Graulich vor, E-Mail-Adressen oder | |
| Telefonnummern aus den Jahren 2005 bis März 2015. Der BND selbst hatte sie | |
| als vertragswidrig aussortiert. Wohl täglich bekommt der Dienst Selektoren | |
| von der NSA übermittelt – um diese auszuspähen. Von 14 Millionen | |
| Suchbegriffen im Lauf der Jahre ist die Rede. Die 39.000 sind kaum mehr als | |
| ein Bruchteil. | |
| In seinem Bericht schlüsselt Graulich die Zahl genauer auf. 16 Prozent der | |
| NSA-Selektoren zielten demnach auf deutsche Institutionen – die der BND | |
| grundsätzlich nicht überwachen darf. Graulich berichtet nur allgemein von | |
| deutschen „Grundrechtsträgern“, von vereinzelten „Auslandsvertretungen�… | |
| „einer ganzen Anzahl“ deutscher Unternehmen, darunter Eurocopter und Eads, | |
| heute Teil des Airbus-Konzerns, an dem auch Deutschland beteiligt ist. | |
| Graulich nennt noch Firmen für Tunnelbau oder gehärtete Bauwerke. Genauer | |
| wird er nicht. Nur so viel: Regierungsadressen seien nicht betroffen | |
| gewesen. | |
| Der Großteil der Selektoren, 70 Prozent, zielte auf europäische | |
| Regierungsstellen – von zwei Dritteln aller EU-Länder. Zum Teil hätten | |
| ganze Bürostäbe auf der Liste gestanden. Dies, schreibt Graulich, hätte | |
| „unter keinem denkbaren Gesichtspunkt in der erfolgten Breite aufgeklärt | |
| werden dürfen“. Und die „qualitativ gravierenden Verstöße“ der NSA hä… | |
| die Deutschen auch in eine „bündnispolitische prekäre“ Lage gebracht: weil | |
| sie die Kooperation mit ihren europäischen Partnern gefährdeten. | |
| ## Keine Kritik am BND | |
| Und nicht alle Selektoren seien sofort aussortiert worden. Einige, vor | |
| allem die europäischen, waren mehr als ein Vierteljahr aktiv. Erst im | |
| Sommer 2013, nach den Snowden-Enthüllungen, hätten die BND-Leute genauer | |
| hingeschaut. Graulich berichtet auch, wie er „informell“ versuchte, von der | |
| NSA Antworten zu erhalten, warum sie diese Spähziele wählte. Ohne Erfolg. | |
| Mit seinem Vortrag ist nun im NSA-Ausschuss dokumentiert: Es gab | |
| Überwachung und Versuche politischer Spionage, die weit übers Ziel | |
| hinausschossen. Angestiftet von der NSA; teils umgesetzt, teils verhindert | |
| vom BND. Auch wenn Graulich ausschließlich die NSA in die Kritik nimmt: Ein | |
| Befreiungsschlag für den deutschen Dienst ist es nicht. Denn offensichtlich | |
| ist es dem BND über Jahre nicht gelungen, die Amerikaner von immer neuen | |
| Spähversuchen gegen eigene Partner abzuhalten. | |
| Schon im Frühjahr hatte das Kanzleramt dem BND „organisatorische Defizite“ | |
| vorgeworfen. Nun kündigte man dort „Maßnahmen“ an, wenn auch recht wolkig: | |
| Die „Weisungslage“ für den BND werde präzisiert, die Rechtsaufsicht | |
| personell ausgebaut. Insgesamt aber wertet das Kanzleramt den | |
| Graulich-Auftritt als Verteidigung: Ein „massenhaftes Überwachen“ beweise | |
| dieser nicht. Und auch Graulich selbst bescheinigt im Ausschuss dem BND, | |
| ein „grundsätzliches Bewusstsein“ für den Schutz deutscher Bürger gegen | |
| Spionage zu haben. | |
| ## BND als kleine NSA | |
| Der SPD-Obmann Flisek wertet Graulichs Auftritt dagegen als Beweis für | |
| „erhebliche Mängel“ innerhalb des BND, in einigen Abteilungen gar für | |
| „schwerstes Organisationsversagen“. Und auch Grüne und Linke sehen den | |
| Dienst nicht entlastet, natürlich nicht. Es gebe doch noch die Millionen | |
| anderer Selektoren, die Graulich gar nicht zu Gesicht bekommen habe, | |
| kritisiert der Grüne von Notz. „Erst wenn man die einsieht, wissen wir, ob | |
| das System funktioniert.“ | |
| Und inzwischen ist die Affäre ja einen Dreh weiter. Erst im Oktober wurde | |
| bekannt, dass auch der BND selbst eigene Selektoren gegen europäische und | |
| US-Institutionen eingesetzt haben soll, eine vierstellige Zahl. Tat der | |
| deutsche Dienst also nichts anderes als die NSA? | |
| Auch hier will der NSA-Ausschuss die Selektoren selbst einsehen – bisher | |
| erfolglos. Und Streit gibt es am Donnerstag auch in einem anderen Punkt. | |
| Bereits in einer Woche soll Edward Snwoden in dem Ausschuss aussagen – per | |
| Videoschalte. Auch hier protestriert die Opposition. Sie will den | |
| NSA-Whistleblower, der alles ins Rollen brachte, direkt auf der Zeugenbank | |
| sehen. Es ist das Revival eines alten Konflikts. Schon vor einem Jahr war | |
| eine Ladung im Ausschuss gescheitert. Diesmal steht die Antwort Snowdens | |
| noch aus. | |
| Graulich muss sich mit diesem Disput nicht mehr beschäftigen. Er kann nun | |
| wirklich seine Rente antreten. Dem Ausschuss aber gibt Graulich, der nichts | |
| gegen die Bezeichnung als Linksliberaler einzuwenden hat und als Kritiker | |
| der Vorratsdatenspeicherung auftritt, noch eine Botschaft mit auf den Weg: | |
| Das, was seine Untersuchung hervorbrachte, habe nichts mit „anlassloser | |
| Massenüberwachung zu tun“. So etwas habe es in der DDR gegeben, aber nicht | |
| in diesem Fall. Man müsse dies „alles in einem größeren Rahmen sehen“. | |
| Auf der Oppositionsbank schütteln einige den Kopf. Ihre Zweifel an der | |
| Unabhängigkeit Graulichs, sie sind nicht zerstreut. | |
| 5 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
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