# taz.de -- Computerspiele im Unterricht: Professor S. und die Zeitforscher | |
> Indem sie Professor S. helfen, lernen Grundschüler auch Stoff für Deutsch | |
> oder Geschichte. Und sie erfahren etwas über Datenschutz im Internet. | |
Bild: Wenn Professor S. nicht weiter weiß, helfen ihm die Schüler_innen. | |
Berlin taz | Professor S. ist verzweifelt. Der Raubritter August der | |
Haarige hat seine Assistentin Jeanette entführt. Professor S. blickt durch | |
das Fenster seiner Zeitmaschine auf eine mittelalterliche Burg. Dort | |
vermutet er seine verschwundene Assistentin. „Kinder, könnt ihr mir helfen, | |
Jeannette zu befreien?“ Während der Videobotschaft von Professor S. ist es | |
mucksmäuschenstill im Klassenzimmer. Kein Kind flüstert oder wippt mit dem | |
Stuhl. Alle Schülerinnen und Schüler gucken gespannt auf den | |
Computerbildschirm. Warum steckt der zerstreute Professor diesmal in der | |
Klemme? | |
Jeden Freitag verwandeln sich die Schülerinnen und Schüler der Klasse 5a | |
der Berliner Franz-Marc-Grundschule in „Zeitforscher“. Sie reisen mit | |
Professor S. zu den Dinosauriern in die Erdmittelzeit, ins Mesozoikum, zu | |
Steinzeitmenschen auf die Insel Java oder zu einer Fahrradprüfung in die | |
Zukunft. | |
Und immer helfen sie dem Professor und Jeannette aus der Patsche, indem sie | |
für sie eine Aufgabe lösen oder Fragen beantworten. Dafür müssen sie sich | |
Wissen aneignen: am Computer, im Pausenhof und manchmal auch zu Hause. „Die | |
Kinder sind sehr motiviert, Professor S. zu helfen“, erklärt Lehrerin | |
Susanne Kanngießer das Spielprinzip. „So lernen sie auch mal Stoff, der sie | |
weniger interessiert.“ | |
Das Lernspiel „Professor S.“ ist mit dem Lehrplan der vierten Klasse | |
abgestimmt und kann fächerübergreifend eingesetzt werden. Das Kapitel | |
„Burgen und Ritter“ passt in den Geschichts-, Deutsch- oder | |
Kunstunterricht. Kanngießer stellte ihren Schülern Professor S. zum ersten | |
Mal in Klasse 4 vor. Da sie nicht alle Kapitel schafften, haben sie in | |
Klasse 5 einfach weitergespielt. Auch deshalb, weil das Spiel ihren | |
Schülern „irre Spaß“ mache, sagt Kanngießer. Bisher ist sie die einzige | |
Lehrerin an ihrer Schule, die mit Professor S. arbeitet. Noch. | |
## Skepsis gegenüber neuen Medien | |
Bundesweit setzten 81 Schulklassen an 58 Schulen „Professor S.“ im | |
Unterricht ein. Weitere Schulen starten mit dem neuen Schuljahr. | |
Beim Einsatz von Computerspielen im Unterricht ist Deutschland Schlusslicht | |
im internationalen Vergleich. Zu diesem Ergebnis kommt 2014 die | |
Icils-Studie (International Computer and Information Literacy Study). | |
Gerade mal 9 Prozent der deutschen Lehrkräfte arbeiten täglich mit dem | |
Computer. In den Niederlanden sind es mehr als 70 Prozent. | |
Ein Grund dafür ist, dass Lehrer hierzulande kaum für den Unterricht mit | |
digitalen Medien ausgebildet werden. Ein anderer die Skepsis gegenüber dem | |
unkritischen Einsatz neuer Medien. „Viele Lehrer fürchten, Computer könnten | |
vom eigentlichen Unterricht ablenken“, so die Leiterin der Icils-Studie | |
[1][Birgit Eickelmann in einem Interview mit Zeit Online]. Bei „Professor | |
S.“ sei diese Gefahr nicht gegeben, stellt das Landesinstitut für Schule | |
und Medien Berlin-Brandenburg fest. „Aus einer fiktiven Erzählwelt heraus | |
entstehen Probleme und Aufgaben, die Schüler in ihrem ganz realen Umfeld | |
lösen müssen.“ | |
Die Vorzüge des „Echtzeitspiels“ werden sich schnell in den Lehrerzimmern | |
herumsprechen, hofft Jan von Meppen. Der Produzent und Komponist hat | |
Professor S. erfunden und vermarktet es auch. „Wir haben bisher viel tolles | |
Feedback von den Lehrerinnen und Lehrern. Professor S. macht nicht nur | |
Spaß, es befreit gerade lernschwache oder lernbehinderte Kinder vom | |
Leistungsdruck“, preist van Meppen die Vorzüge seines Spiels. | |
## Professor S. braucht Hilfe | |
Diese Erfahrung hat auch Kanngießer gemacht. Diese Woche nimmt die Lehrerin | |
das Thema Kalligrafie durch. Die Kinder sollen eine Buchseite selbst | |
gestalten, vielleicht sogar eine Tuschefeder selbst schnitzen. Über die | |
Abenteuer des Professor S. führt Kanngießer die Kinder an den | |
Unterrichtsstoff heran und lässt ihnen Raum für ihre Fantasie. | |
Nach einer Videobotschaft des Professors rätseln die Schüler, wie sie ihm | |
helfen können. Breite Zustimmung findet der Vorschlag, sich als Knappe zu | |
verkleiden und unerkannt die Burg zu betreten. Erin, der sich am | |
schnellsten meldet, darf dem Professor den Vorschlag schicken. Dazu loggt | |
er sich mit einem Passwort in die Software ein und tippt eine Nachricht an | |
den Professor. Der Rettungsversuch kann beginnen. | |
In der Schreibstube der Burg trifft Professor S. auf den alten Zacharias, | |
der für den launischen Burgherrn eine Buchseite verzieren soll. Da er | |
schlecht sieht, benötigt er dringend Hilfe. Im Gegenzug will Zacharias das | |
geheime Passwort zum Burgturm verraten, wo Jeannette eingesperrt sein soll. | |
„Könnt ihr mir vielleicht den Entwurf für eine Buchseite schicken?“, bitt… | |
Professor S. die Kinder. „Findet heraus, was eine Initiale ist, was ein | |
Skriptorium.“ Kanngießer ergänzt: „Und welche Werkzeuge ein Kalligraf | |
braucht. Ich glaube, ihr müsst das alles gleich im Internet recherchieren.“ | |
Die 5a macht sich auf den Weg in den Computerraum. | |
## Fiktion und Realität verschmelzen | |
Die Spielidee zu „Professor S.“ hatte Jan von Meppen 2009, als er für einen | |
befreundeten Lehrer die Schulserver installierte. Ihm fiel auf, dass die | |
Grundschüler Computer ähnlich nutzten wie Schulbücher: sehr passiv. Das | |
muss doch interaktiver und unterhaltsamer gehen, dachte er sich. Wie wäre | |
es, wenn die Schüler am PC Lernaufträge bekämen, für die sie sich vom | |
Computer wegbewegen müssten. Und zwar von einer echten Person, die sich | |
über alle Leistungen freut. Damals habe niemand sein Spielkonzept richtig | |
verstanden, erinnert sich von Meppen. Keiner konnte sich etwas unter einem | |
„interaktiven Echtzeitspiel“ vorstellen. | |
Alternate Reality Games heißen solche Computerspiele, bei denen Fiktion und | |
Realität verschmelzen. Bei Professor S. können die Schüler mit einer | |
„Zeitkapsel“ dem Professor, der im Spiel von einem Schauspieler dargestellt | |
wird, vermisste Gegenstände schicken. Im Dankesvideo hält der Professor | |
dann plötzlich den Gegenstand in Händen. Und er schickt den Kindern | |
persönliche Nachrichten. Natürlich formuliert vom Klassenlehrer. Darauf | |
kommen aber die wenigsten Kinder, erzählt Susanne Kanngießer: „Ich versuche | |
immer, selbst ganz überrascht zu sein, wenn eine neue Nachricht von | |
Professor S. da ist.“ | |
An sieben Berliner Grundschulen wurde Professor S. konzipiert und mit | |
Schülern getestet. Der Berliner Senat stellte Pädagogen und Räumlichkeiten | |
zur Verfügung. So erstellten Softwareentwickler, Schulpädagogen und Lehrer | |
zusammen die Spielinhalte und passten sie an den Berliner Rahmenlehrplan | |
an. Das Medienboard Berlin-Brandenburg sowie der Berliner Projektfonds | |
„Kulturelle Bildung“ förderten das Projekt. Eine Bank und weitere | |
Investoren liehen von Meppens Softwarefirma „Ludinc“ Geld. | |
## Neue Staffeln in Arbeit | |
1,7 Millionen Euro hat von Meppen bisher in „Professor S.“ investiert. Im | |
Herbst will er eine neue Staffel drehen: diesmal nach dem Lehrplan der 3. | |
Klasse. Derzeit tüfteln zwei Mitarbeiterinnen an den neuen | |
Abenteuergeschichten und erarbeiten Unterrichtsmaterialien für die | |
Lehrkräfte. | |
„Unser Ziel ist es, dass bald fünf Prozent der deutschen Grundschulen | |
Professor S. spielen“, erklärt von Meppen. Wenn jeweils nur eine | |
Schulklasse eine Lizenz erwirbt, kämen im Jahr rund 100.000 Euro zusammen. | |
Van Meppen glaubt, dass sich „Professor S.“ bald auch finanziell rechnen | |
wird. | |
Auf der Bildungsmesse „Didacta“ im Februar kam das Spiel bei seinen | |
potenziellen Kunden jedenfalls gut an. Viele Lehrerinnen und Lehrer, unter | |
ihnen auch Susanne Kanngießer von der Franz-Marc-Grundschule, erwarben am | |
Ludinc-Stand eine Jahreslizenz. | |
Im Geiste ist von Meppen schon viel weiter. Er überlegt, wie er ein | |
gesamtes Spieleuniversum aufbauen kann, mit unterschiedlichen Maskottchen | |
je nach Jahrgangsstufe. „Bei älteren Schülern funktioniert ein zerstreuter | |
Professor nicht mehr. Die interessieren sich mehr für Detektivgeschichten. | |
Und in der 1. und 2. Klasse fahren Schüler noch voll auf Tiere ab.“ Aber | |
die verschiedenen Charaktere könnten als Nebendarsteller auch in den | |
jeweils anderen Spielwelten vorkommen. „Ein ganzes Spieleuniversum“, träumt | |
von Meppen. „Ein Ludinc-Imperium.“ | |
## Jeder Schüler bekommt einen „Zeitforscherausweis“ | |
Im Mai durfte von Meppen sein Spiel auf der Netzkonferenz re:publica | |
vorstellen. Als einer von drei Finalisten war „Professor S.“ für den | |
European Innovative Games Award nominiert, unter anderem, weil das Spiel | |
das Thema Datenschutz thematisiert. Der Zugang zur Website von Professor S. | |
ist verschlüsselt. Jede Schülerin und jeder Schüler bekommen einen | |
„Zeitforscherausweis“ mit einem eigenen Passwort. „Die Sensibilisierung | |
funktioniert leider noch nicht“, sagt Kanngießer. „Die Kinder vergessen | |
ständig ihre Passwörter.“ | |
Kanngießer, die an der Schule für Medienerziehung zuständig ist, berichtet, | |
wie unhinterfragt Schüler im Unterricht Medien nutzten. „Die Kinder glauben | |
alles, was sie sehen. Wir Lehrer müssen ihnen beibringen, Informationen aus | |
dem Internet kritisch zu hinterfragen.“ Der Ansatz von „Professor S.“, | |
Schulkinder unter Anleitung von Lehrkräften im Internet recherchieren zu | |
lassen, hat sie deshalb sofort angesprochen. | |
Lisa sucht im Internet nach Kalligrafien. Sie geht auf Bildersuche, scrollt | |
den Bildschirm herunter, bis sie auf ein Bild mit japanischen | |
Schriftzeichen stößt, das ihr gefällt. Sie kopiert das Bild, fügt es in | |
Word ein und passt die Größe an, so dass mehrere kleine Bilder auf eine | |
DIN-A4-Seite passen. Als sie fertig ist, druckt sie die Seite aus. Von den | |
Entwürfen macht Kanngießer dann Fotos, die die 5a zusammen Professor S. | |
schicken wird. Jede Wette, dass er sich über alle Arbeiten freuen wird. | |
23 Jul 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2014-11/digitale-medien-unterricht-s… | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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