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# taz.de -- Flüchtlingsprotest in Berlin: „Sie sollen uns ernst nehmen!“
> Neun Tage lang haben 15 Flüchtlinge in Berlin mit einem Hungerstreik für
> mehr Rechte demonstriert. Das Brandenburger Tor ist zu ihrem Symbol
> geworden.
Bild: „Lieber gehe ich nach Afghanistan zurück“: Maiwand Nori will nicht i…
BERLIN taz | Am Vormittag, der Regen setzt gerade ein, gesellt sich eine
elfte Klasse zu den Flüchtlingen. Der Sozialkundelehrer ermuntert seine
Schüler: „Stellt eure Fragen!“ Hamid Haghayghe, der vor knapp zwei Jahren
aus dem Iran geflüchtet ist, antwortet stoisch. „Warum protestierst du
hier“, fragt ein Schüler. „Die Politiker haben uns nicht ernst genommen.
Jetzt sind sie gezwungen, uns ernst zu nehmen.“ – „Wie verdient ihr euer
Geld, oder lebt ihr vom Staat?“ – „Der Staat hat unsere Asylleistungen
gestrichen, und wir leben von Menschen, die uns unterstützen.“
Solche Fragen können den 27-Jährigen nicht mehr beeindrucken. Er steht in
der Mitte des Pariser Platzes und blickt unerschütterlich in Richtung
Brandenburger Tor. Von dort müssten die Politiker kommen, denen Hamid und
die anderen Hungerstreikenden so nahe sind wie noch nie.
Hamid hat sich vom Asylbewerberheim im sauerländischen Attendorn aus auf
den Weg in die Hauptstadt gemacht. Er schüttelt den Kopf, nein, nach
Attendorn führt kein Weg zurück, sein Asylantrag ist abgelehnt. Wenn der
Hungerstreik vorbei ist, wohin sollte er gehen? Vielleicht nach Meppen, wo
sein Bruder seit 14 Jahren lebt? Stolz steht er da, die Jacke offen, den
Hals frei, als wäre er gegen die Kälte immun.
Abschaffung der Residenzpflicht, der Sammelunterkünfte, des
Abschiebegesetzes und Anerkennung aller Asylsuchenden als politische
Flüchtlinge: das sind die Forderungen der Hungerstreikenden, sie stehen auf
Zetteln, die Unterstützer Passanten zustecken. Um sie durchzusetzen,
müssten die Regierungsfraktionen geschlossen bei ihnen auftauchen – um dann
am Ende ein ganz neues Gesetz zu beschließen. Doch unter der Quadriga
ziehen nur Touristen hindurch, knipsen das Tor, beäugen die Transparente,
die „Bewegungsfreiheit für alle“ fordern, und laufen dann weiter.
Annette ist eine der Unterstützerinnen, sie schafft es, gelegentlich ein
Flugblatt loszuwerden. Sie erzählt von Projekten wie „Kunst gegen
Faschismus“ und sagt bestimmt: „Faschismus beginnt dort, wo jemand
dazukommt, der nicht respektiert wird.“ Sie habe den Protest von Anfang an
unterstützt.
Sie erzählt, wie sich ein Teil der Flüchtlinge im September von Würzburg
aus zu Fuß auf den Weg gemacht hat. Wie andere vom Rhein und aus dem Norden
mit Bussen angereist ist, wie sie sich in Potsdam vereinigt haben und nach
Berlin gezogen sind und in Kreuzberg ein Zeltlager errichtet haben.
## Kreuzberg ist Folklore
Doch ein Zeltlager in Kreuzberg? Das wirkt schon fast wie Folklore. Um in
Berlin nicht übersehen zu werden, müssen andere Orte her. Und so sind
zwanzig Flüchtlinge, mit dem Segen der Zurückgebliebenen, wie es heißt, zum
Brandenburger Tor losgezogen. 15 von ihnen sind nun den neunten Tag im
Hungerstreik. Keine Organisation stehe hinter den Leuten, beteuert Annette,
es seien nur Unterstützer, die sich über Netzwerke wie Facebook gefunden
haben.
Dirk Stegemann gehört dazu. Gegen die Bezeichnung „Vollzeitaktivist“ dürf…
er keine Einwände haben, denn derzeit kommt der 45-Jährige zu nichts
anderem. Stegemann raucht Kette, telefoniert unentwegt und geht, gut gegen
den Regen imprägniert, über das Pflaster. Dunkle Augenringe künden von
Schlafmangel. Stegemann ist in der Demoszene von Berlin bestens bekannt,
hat bereits unzählige Veranstaltungen angemeldet, gegen Nazis,
Rechtspopulisten, Rassismus, er hat auch diese Demonstration angemeldet. Er
ist der, den sich die Polizei sucht, wenn sie etwas zu bemängeln hat.
Im Vergleich zu den Vortagen ist es ruhig, keine Schikanen, keine
Rangeleien. Der Bezirksbürgermeister von Mitte hatte sich mit den
Flüchtlingen getroffen und Mäßigung versprochen. Auch dass jetzt zwei
Fahrzeuge zum Aufwärmen hier stehen, ist Ergebnis des Treffens.
Polizeihauptkommissar Wildt hält sich abseits und sagt mit verstörender
Heiterkeit in eine Kamera, man habe kein Interesse daran, dass jemand hier
verstirbt. Immerhin wurden drei Flüchtlinge wegen Unterzuckerung behandelt.
Die Polizei setze nur das Versammlungsrecht durch, das Zelte und
Schlafsäcke hier nicht dulde. „Es steht uns nicht zu, die Sache zu
bewerten.“
## Fragen bitte nur auf Deutsch
„Kein Mensch ist illegal!“, brüllt einer über den Platz. „Bleiberecht
überall!“, antwortet die Menge. Maiwand Nori hat eine für seine schmächtige
Statur erstaunlich kräftige Stimme. Hals und Kopf sind in eine Kufija
gewickelt. Dreimal wurde er bereits behandelt, erzählt der 20-Jährige, Kopf
und Bauch schmerzen, auch mit der Polizei gab es schon Handgemenge.
Maiwand, der vor knapp zwei Jahren aus Afghanistan gekommen ist, hat das
Asylbewerberheim im Thüringischen Greiz hinter sich gelassen, ist nach
Würzburg und hat sich dem Protestmarsch angeschlossen. Demokratie dürfe
nicht nur für die Deutschen gelten, sondern auch für Asylbewerber, macht er
klar. „Ich auch ein Mensch!“, ruft er und klopft sich auf die Brust.
Maiwand ist einer der wenigen, die Deutsch sprechen, und er macht klar, wie
stolz er darauf ist. Fragen bitte nur auf Deutsch. Sein Asylantrag laufe
noch, sagt er, doch nach Greiz bringe ihn keiner zurück, versichert er. „Zu
viele Nazis!“
Es gibt kaum einen wirkungsvolleren Ort als den Pariser Platz. Jedes Foto,
jedes Interview mit dem Brandenburger Tor im Rücken wird zum Symbol. Das
Fernsehen ist da, Abgeordnete kommen, selbst die Polizei hat Respekt und
steckt sie nicht mehr gleich in die nächste „Wanne“. Beachtung ist ihnen
sicher, von Sympathisanten – und von Missgünstigen auch.
Eine Familie verlangsamt ihren Schritt. Hungerstreik? Die beiden Jungs
blicken fragend. „Die wollen ihren Willen durchsetzen und damit sie ihn
bekommen, essen sie nüscht“, belehrt sie die Oma. „Die wollen Geld haben,
die wollen nur kassieren“, legt der Vater nach. Die Händen in den Taschen,
hält er kurz inne, blickt mürrisch zu den Flüchtlingen und läuft weiter.
Verständnis hätte er auch nicht für den 29-jährigen Iraner Hamid Reza
Moradi, der entschlossen verkündet: „Ich bin eher bereit, hier zu sterben,
als im Asylbewerberheim!“ Doch alles hänge von der Reaktion der Regierung
ab. Wie könnte die sein? Er wird nachdenklich. Das könne er wirklich nicht
sagen, entschuldigt er sich.
## „Berechtigte Forderungen“
Plötzlich steht Maria Böhmer in der Mitte, sie hält einen schwarzen Schirm
hoch. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung wirkt mit ihren blonden
Haaren darunter wie eine Lichtgestalt. Jedes Wort wird aufgesaugt. „Gestern
erhielt ich einen Hilferuf von Frau Kolat“, spricht sie ins Rund. Dilek
Kolat, Berliner Senatorin für Integration, steht an ihrer Seite. An die
Flüchtlinge gewandt, sagt Böhmer: „Sie haben berechtigte Forderungen.“
Darüber wolle sie reden.
Schon wendet sie sich der Akademie der Künste zu, wo man zusammensitzen
will. Und als ob es nicht um sie ginge, stehen viele Hungerstreikende
plötzlich abseits, gestikulieren. Böhmer verschwindet mit einem Pulk aus
Kameras und Unterstützern schon hinter Glastüren. Maiwand rennt wie ein
Wahnsinniger über den Platz, dann stürzen die anderen hinterher.
Vier Stunden sitzen sie zusammen, nur vom Dolmetscher begleitet. Danach
dankt Böhmer den Flüchtlingen, „denn Sie tun das nicht nur für sich,
sondern auch für die große Zahl der Asylsuchenden in Deutschland“. Sie
spricht von bewegenden Gesprächen und äußert Zweifel an der
Residenzpflicht. Sie will Asylbewerberheime besuchen und sich dafür
verwenden, dass die Flüchtlinge, die mit ihrem Protest gegen die
Residenzpflicht verstoßen, straffrei blieben. Und am 15. November solle es
Gespräche mit Bundestagsabgeordneten geben.
Prüfen, zweifeln, ankündigen – für fremde Ohren schwer zu deuten. Als
würden sie noch rätseln, kehren die Flüchtlinge auf ihren Platz zurück. Die
Agenturen melden zügig: „Flüchtlinge brechen Hungerstreik ab.“
„Scheiße!“, wettert Maiwand am nächsten Morgen. „Politiker-Blablabla! I…
kenne das.“ Dann lacht er. „Ich bin jung.“ Geknickt wirkt er nicht,
enttäuscht schon. Geht er nach Greiz zurück? Nein, nach Thüringen niemals.
„Lieber gehe ich nach Afghanistan zurück!“ Er lacht wieder. Bis Montag
wollen sie noch bleiben – mindestens. Die Anmeldung für diesen Ort läuft
bis Montag. Und dann? Die Gruppe will beraten. Zumindest für den Pariser
Platz ist klar: Bald wird ein Lichterbaum von Weihnachten künden.
2 Nov 2012
## AUTOREN
Thomas Gerlach
Thomas Gerlach
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Flüchtlinge
Protest
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