| # taz.de -- Hungerstreik fortgesetzt: Plötzlich ist Renate Künast da | |
| > Seit Tagen verharren Flüchtlinge auf dem Pariser Platz im Hungerstreik - | |
| > fest entschlossen trotz Kälte und Gängelung durch die Polizei. Eine | |
| > Nahaufnahme. | |
| Bild: Die Kräfte schwinden: Sanitäter sprechen mit Flüchtling. | |
| Es ist ein trostloser Anblick, der sich Passanten am Brandenburger Tor | |
| bietet: Vor dem Wahrzeichen liegt ein Bündel aus Regenschirmen, | |
| Eierschachteln, Stofffetzen und vom Regen aufgeweichten Bannern mit der | |
| Aufschrift „Stopp Abschiebung“. Unter einem Regenschirm lugen zwei Beine in | |
| einer khakifarbener Skihose hervor. „Der Tee ist das Einzige, was uns noch | |
| wärmt“, sagt Hamid und zieht die schwarze Mütze ins Gesicht – „Berlin“ | |
| steht darauf. Mit verschränkten Armen steht der Iraner vor dem | |
| Lumpenhaufen, als wolle er die Menschen hier beschützen, Flüchtlinge aus | |
| aller Welt, die wie er nach Berlin marschiert sind, um für einen | |
| menschenwürdigen Umgang mit Asylbewerbern zu kämpfen. | |
| Bisher ignorieren die Politiker, die ein paar hundert Meter weiter das Land | |
| regieren, die Forderungen. Deshalb haben einige der Flüchtlinge am Mittwoch | |
| aufgehört zu essen. Die Polizei versucht alles, die von Hunger und Kälte | |
| geschwächten Demonstranten zu vertreiben. „Aber wir werden bleiben“, sagt | |
| Hamid bestimmt. | |
| Ohne Unterstützer wäre das nicht möglich: Bis zu 50 Frauen und Männer sind | |
| zeitweise bei den Flüchtlingen versammelt, kochen Tee, tragen Transparente. | |
| Wie Steffen Aumüller. Der Student hat die letzten Nächte bei den | |
| Flüchtlingen gewacht. „Zwischen zwei und vier Uhr, wenn nur ein paar | |
| Partygäste vor dem Brandenburger Tor posieren, dann kommen Polizisten | |
| vorbei“, sagt er. „Letzte Nacht haben sie den Demonstranten sogar die | |
| Rettungsdecken abgenommen.“ | |
| Fisura, 42, auch sie Iranerin, hockt mit angewinkelten Beinen am Lager aus | |
| Schirmen und Stofffetzen. Die weiße, viel zu große Strickmütze mit roter | |
| Krempe hat sie tief ins feine Gesicht gezogen, ihre Lippen sind rot | |
| geschminkt. Auch sie habe seit Mittwoch nicht mehr gegessen, erzählt sie, | |
| und nippt an einem Becher Pfefferminztee. „Für die Zukunft meiner Töchter | |
| mache ich alles“, sagt Fisura. Als die noch 16 und 18 Jahre alt waren, ist | |
| sie mit ihnen geflohen. | |
| ## Dem Zug angeschlossen | |
| „Wir mussten Hals über Kopf weg“, erzählt die Lehrerin und deutet mit dem | |
| Finger eine Schlinge um ihren Hals an: „Meine ältere Tochter wurde | |
| bedroht.“ Sie landeten in Kassel, wo sie zweieinhalb Jahre zwischen Dreck | |
| und Kartons hausen mussten. „Es gab nur eine Toilette pro Stock, die war | |
| ständig verstopft.“ Fisura schüttelt den Kopf. „Ich habe meine Schüler | |
| vermisst und meine Familie“, erzählt sie. „Das war unerträglich“. Als d… | |
| Flüchtlingszug nach Berlin kam, hat sie sich mit ihren Töchtern | |
| angeschlossen. Sie hat den Traum noch nicht aufgegeben, in Deutschland ein | |
| Leben zu führen, das ihrem Lebensstandard im Iran nahekommt. „Ich wünsche | |
| mir, dass meine Tochter ihr Architekturstudium fortführen kann.“ Ihre Augen | |
| leuchten. „Und ich möchte wieder in einem warmen Haus schlafen.“ | |
| Ein Tourist um die 50, cremefarbener Mantel, die Knöpfe spannen am Bauch, | |
| beugt sich über den Haufen an Regenschirmen und Lumpen. Als er Fisuras | |
| Blick spürt, schreckt er zurück. „Mein Buchhalter wohnt in einem | |
| 800-Einwohner-Dorf“, erzählt der Kaufmann einem der Unterstützer, „da | |
| sollen jetzt 500 Asylbewerber aufgenommen werden. Wie soll denn das | |
| funktionieren?“ Er schüttelt den Kopf und geht weiter. | |
| Plötzlich ist Renate Künast da. Fisura erkennt die Grünen-Politikerin, | |
| springt auf und zerrt vier Männer in Anoraks hoch, die neben ihr vor sich | |
| hin gedämmert haben. „Ich bin mit meinen Töchtern geflohen“, ruft sie und | |
| streckt ihren Arm hoch. „Meine Töchter sind klug, ich wünsche mir eine gute | |
| Zukunft für sie.“ Künast ist von Demonstranten umzingelt. „Deutschland | |
| stellt gute Autos und schöne Häuser her, aber wer denkt an uns? Wir sind | |
| auch Menschen!“, ruft ein anderer Demonstrant. Die Grüne nickt | |
| verständnisvoll: „Das Wichtigste ist für uns, dass Sie protestieren dürfen | |
| und Ihre Gesundheit nicht gefährdet ist.“ | |
| ## Kein Vertrauen | |
| Hamid schüttelt den Kopf. Dasselbe habe er schon letzte Nacht gehört. Da | |
| hatte Mittes Ordnungsstadtrat Carsten Spallek die Demonstranten überreden | |
| wollen, in einer Notunterkunft zu übernachten. „Wir hätten den Protest | |
| unterbrechen müssen, die Polizei hätte wahrscheinlich auch Schirme und | |
| Plakate mitgenommen“, glaubt Hamid. Zwar garantierten die Beamten den | |
| Flüchtlingen, am nächsten Morgen zurückkehren zu können. „Aber wir | |
| vertrauen ihnen nicht“, so Hamid. „Die Polizei sagt alle 30 Minuten etwas | |
| anderes. Die wollen uns loswerden.“ Er richtet sich auf und verschränkt die | |
| Arme vor der Brust wie ein Bodyguard. „Lieber sterben wir hier als im | |
| Gefängnis.“ | |
| 30 Oct 2012 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Maria Amberger | |
| Julia Amberger | |
| ## TAGS | |
| Flüchtlinge | |
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