| # taz.de -- Flüchtlingsproteste in Deutschland: Flucht zurück | |
| > Mit einem Hungerstreik am Brandenburger Tor machten sie im Herbst auf | |
| > ihre Lage aufmerksam. Nun reisen die Aktivisten von Unterkunft zu | |
| > Unterkunft. | |
| Bild: Patras bei einer Infoveranstaltung der Flüchtlinge in Hamburg: Dem Ugand… | |
| HAMBURG/ NEUMÜNSTER taz | Nur bedrucktes, gefaltetes Papier. Er fühlt, wie | |
| die Hände des Polizisten in seinen Jackentaschen suchen, aber Patras bewegt | |
| sich nicht. Die Schultern an der Garagentür, die Füße im Schnee. Von der | |
| Autowerkstatt aus kann er die Kaserneneinfahrt sehen – das Tor zur | |
| Flüchtlingsunterkunft in Neumünster. Seine Hand pocht vor Schmerz. „Keine | |
| Papiere“, sagt jemand. | |
| Der Polizist stopft die Flyer in eine Plastiktüte, dann schleppen sie ihn | |
| zum Bus. „Mach ihn mal gerade“, sagt ein Polizist zum anderen. Kurz blickt | |
| Patras an die stählerne Decke des Wagens. „Take the jacket off“, sagen sie | |
| zu ihm. Patras rührt sich nicht. Sie richten ihn auf. Er reißt die Lippe | |
| nach oben, presst die Zähne zusammen und stöhnt. Nicht wieder die Hand. Mit | |
| einem Ruck zieht ihn der Polizist in die enge Zelle, Patras sitzt, wankt. | |
| Dann knallt die Tür ins Schloss. | |
| In Hamburg-Bergedorf sind alle Häuser der Flüchtlingsunterkunft aus Metall. | |
| Nikmal steigt die Eisentreppe einer pastellgelben Hütte herauf. Ein Mann in | |
| Jogginghose öffnet die Tür. „Kommen Sie mit nach Berlin“, sagt Nikmal. Er | |
| sortiert das bunte Papier in seiner Hand und zieht ein weißes heraus. Für | |
| Afghanen. „Kommt zu unserer Demo am Samstag“, steht in persischer Schrift | |
| auf dem Flyer. Zur Revolution der Flüchtlinge. „Wir leben da in Zelten“, | |
| sagt Nikmal. | |
| ## Flyer in allen Sprachen | |
| Seit Oktober wohnen in Berlin mehr als 120 Flüchtlinge in einer leer | |
| stehenden Schule und in einem Zeltlager in Kreuzberg. Sie haben ihre | |
| Provinzunterkünfte verlassen und protestieren dort gegen die Pflicht, in | |
| solchen Heimen wie diesem in Hamburg zu leben. In schmalen Zimmern mit | |
| Möbeln aus Stahl. Sie wehren sich dagegen, jahrelang am selben Ort bleiben | |
| zu müssen, und gegen die eigene Abschiebung. Seit Februar fahren rund | |
| zwanzig von ihnen mit drei Kleinbussen durch Deutschland. Zurück zu den | |
| Heimen, um Flüchtlinge mitzunehmen. | |
| Der Mann aus Afghanistan rafft seine Jacke vor dem Bauch zusammen. Sein | |
| Sohn, barfuß, im fleckig grauen T-Shirt, steigt auf den kleinen Teppich vor | |
| der Türschwelle und dann in pinkfarbene Plastiksandalen. „Wir können nicht | |
| kommen, wir haben keine Erlaubnis“, sagt sein Vater. „Wir brauchen keine | |
| Erlaubnis, wenn wir kämpfen wollen“, sagt Nikmal. | |
| Unten, auf dem Parkplatz, steht Patras neben einem Lautsprecher, den er an | |
| zwei Holzstäben ziehen kann wie einen Rollkoffer. „Stop deportation!“, | |
| brüllt er ins Mikrofon. Dann schaltet der zierliche Mann die Musik ein. | |
| „Heal the world“, dröhnt Michael Jacksons Stimme. Kinder fahren mit | |
| Fahrrädern durch die Pfützen, ein paar Bewohner der Unterkünfte sind näher | |
| gekommen. Am Parkplatzrand steht nun auch der afghanische Vater neben einem | |
| Herrn mit weißem Bart und Jungen, die Sporthosen tragen wie Nikmal. Der | |
| Afghane beobachtet die jungen Leute, die zwischen den Bussen tanzen und | |
| lächelt. Er darf nicht arbeiten, sagt er, seit zwei Jahren wartet er auf | |
| Asyl. | |
| Am Ende fragt doch noch jemand. „Wenn sie mich abschieben wollen, sollen | |
| sie das machen“, sagt Patras. Der Diskussionsabend in Hamburg läuft gut, | |
| viele Leute, viele Fragen. Der Brief vom Landratsamt Passau kam im Herbst. | |
| Patras’ Aufenthalt beeinträchtige „die öffentliche Sicherheit und Ordnung… | |
| der Bundesrepublik, stand darin. „Das soll den anderen Flüchtlingen zeigen: | |
| Wenn ihr euch wie Patras verhaltet, werdet ihr auch abgeschoben“, sagt er. | |
| Patras war schon in Uganda Aktivist, setzte sich für die Rechte von | |
| Homosexuellen ein, bevor er flüchtete. | |
| ## Verkehrskontrolle | |
| Nächster Halt. Roter Klinker, weiße Balkone. Die Mülltonnen quellen über. | |
| „Alle Ziehgäuner sind Archlöcher“, hat jemand mit grüner Farbe an die Wa… | |
| geschrieben. Patras zieht seinen Lautsprecher in den Innenhof der | |
| Wohnanlage Billstieg. „No border, no nation.“ Seine Stimme hallt im | |
| Innenhof. Kinder laufen die Betonwege entlang. „Ist das ein Fest?“, fragt | |
| ein Mädchen. | |
| Vor den weißen Gardinen der langen Fensterreihen tauchen Köpfe auf. Ein | |
| Mann mit blauer Kappe zündet sich auf einem Balkon im ersten Stock eine | |
| Zigarette an. „Wir gehen da im Moment noch nicht drauf ein“, sagt das | |
| Funkgerät in seiner Brusttasche. Zwei Streifenwagen halten am Straßenrand. | |
| „Allgemeine Verkehrskontrolle“, sagt ein Polizist, als die Flüchtlinge zu | |
| den Bussen zurückkehren. „Polizeikontrolle scheiße!“, ruft Patras. | |
| 8.30 Uhr Frühstück, 9.30 Uhr Ankunft im Kulturzentrum Kölibri, 10 Uhr | |
| Pressekonferenz. Alle Stühle sind besetzt, alle Flüchtlinge haben einen | |
| Platz gefunden. Die sechs Helfer aus Berlin, die sie auf der Busfahrt | |
| begleiten, ebenfalls. Jonas hat seine Kamera auf ein Stativ gestellt, | |
| Theresa hockt mit ihrem Fotoapparat in der ersten Reihe. Neben ihr sitzt | |
| der einzige Journalist, der an diesem Morgen gekommen ist. Ein junger Mann | |
| vom Radio. | |
| „Wir können nicht mehr denken“, sagt Darlinton in das kleine Tischmikrofon. | |
| Vor zwei Wochen kam der Bus der Aktivisten in seine Unterkunft im | |
| bayerischen Nördlingen. Da stieg Darlinton ein. Er hat breite Schultern. | |
| Seine Stimme ist leise. „Wir bringen uns um wegen dieser Probleme“, sagt | |
| er. Immer bloß essen und schlafen. Der Journalist fährt mit dem Daumen über | |
| seine Lippen, dann reibt er die Augen, blickt auf den Boden, schließt die | |
| Lider. | |
| Als die Konferenz vorbei ist, stapfen alle durch dicken Schnee in Richtung | |
| Hafen. Das Panorama der Kräne mache sich gut auf den Bildern, hat sich | |
| Patras am Abend vorher überlegt. Die Flüchtlinge stellen sich auf, Theresa | |
| knipst. Der Mann vom Radio ist gegangen. | |
| ## Blöde Sprüche | |
| Zurück nach Bergedorf. Ein Transparent fehlt, jemand hat es vergessen. Hier | |
| hatten sie die Plakate aus Papier an jedes Flüchtlingshaus geklebt. Eine | |
| rote Faust auf gelber Farbe und das Datum der Demonstration am nächsten | |
| Samstag. Doch über Nacht sind die Poster verschwunden. Stattdessen haften | |
| jetzt Aufkleber an den Blechfassaden: „Es sind zu viele Ausländer bei uns.“ | |
| Patras baut seinen Lautsprecher auf. In Neumünster stehen sechs | |
| Polizeibusse hinter dem Gittertor der Flüchtlingsunterkunft, direkt davor | |
| Polizisten. Schleswig-Holsteins Landesunterkunft für Asylsuchende ist eine | |
| ehemalige Kaserne. Ihre zwei Busse haben die Flüchtlinge in der Einfahrt | |
| geparkt. „Wir haben die ganze Fläche für sie bereitgehalten“, sagt ein | |
| Beamter und deutet auf einen schneebedeckten Parkplatz: „Aber | |
| Kontaktaufnahme nur, wenn die von drinnen das wünschen.“ | |
| Ein Mann mit Anorak und getönten Brillengläsern tritt dazu. Ulf Döhring | |
| stellt sich vor. Leiter des Landesamts für Ausländerangelegenheiten. Er | |
| sagt: „Sie können Ihre Flugzettel innen an die Pinnwände hängen. Wir machen | |
| drei Gruppen mit je zwei Leuten.“ | |
| ## Herablassende Beamte | |
| Patras spricht in das Mikrofon: „Wir sind hier, um mit den Menschen zu | |
| reden, und nicht, um mit der Polizei zu reden.“ Er schaut sich um. | |
| „Ausländerbehörde scheiße!“, ruft er dann. „Hast du fein gemacht“, s… | |
| Döhring zu ihm. „Wir wollen einfach nur unsere Freiheit, das ist alles“, | |
| sagt Darlinton. Döhring dreht sich zu Theresa um: „So, wir brauchen sechs | |
| Leute.“ | |
| In der Unterkunft läuft Darlinton zügig einen Gang entlang, über Fließen | |
| aus grauem Stein. Die Wände sind kahl. Bei einer der Türen hält er an, | |
| klopft, zwei Männer öffnen. Döhring folgt ihm. „You are not allowed to – | |
| was heißt stören? Was weiß ich!“ Sein Kollege zuckt mit den Achseln. „Ke… | |
| Ahnung.“ | |
| Gegenüber öffnet eine junge Frau Darlinton die Tür. Zwischen Bett und Tisch | |
| steht in ihrem Zimmer ein Kinderwagen. Unter ihrem hellblauen T-Shirt wölbt | |
| sich ein kleiner Bauch. „Ich habe Angst“, sagt sie. „Leute immer betrunke… | |
| immer laut. Das ist schlecht mit meinem Baby.“ Darlinton nickt. „In | |
| Stuttgart hat sich letzte Woche jemand umgebracht.“ | |
| Ein Stockwerk höher trifft er Theresa wieder und Nikmal. Sie haben Flyer | |
| verteilt, der Flur ist voller Menschen, Kinder laufen umher. „So, wer ist | |
| jetzt hier von der Bustour?“, fragt Döhring. | |
| ## Pfefferspray im Einsatz | |
| Als Darlinton die Kaserne verlässt, ist das Tor von außen mit Stoff | |
| behangen. Die Demonstranten haben ein Transparent an den Eisenstäben | |
| festgeknotet. Mittlerweile stehen mehr Menschen vor der Kaserne. Eine | |
| Trommelgruppe spielt, Menschen tanzen. Langsam bewegen sie sich auf die | |
| Straße. Ein Linienbus kommt auf die Menge zu und bleibt stehen. Darlinton | |
| breitet die Arme aus. Er legt sich vor die breiten Busreifen. | |
| Als die Polizisten ihn nach oben reißen, hört Darlinton schon die anderen | |
| rufen. Einige haben sich über Patras geworfen, Polizisten sprühen | |
| Pfefferspray in ihre Augen und schlagen mit Fäusten in ihre Gesichter. | |
| Patras schreit, dann ziehen ihn zwei auf die andere Straßenseite. | |
| Vor dem Polizeirevier haben die Flüchtlinge ein Transparent ausgebreitet. | |
| Sechs von ihnen sind noch drinnen. Nikmal soll eine Rede halten, er steht | |
| in der Mitte. „Wenn der Mann in Frankfurt an Krebs stirbt, wird das niemand | |
| mitbekommen“, sagt er. Und die alte Frau, die nicht laufen kann und nicht | |
| sprechen, die allein ist in der Unterkunft. „Wenn du achtzig bist. Was | |
| machst du dann?“ Er bricht ab. Geht ein paar Schritte zur Seite und zieht | |
| die Kapuze über die Augen. Einer legt ihm den Arm um die Schultern. | |
| 21 Mar 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Kristiana Ludwig | |
| Kristiana Ludwig | |
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