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# taz.de -- 20 Jahre „Asylkompromiss“: Grausame Lotterie
> Flüchtlinge werden in Europa sehr unterschiedlich behandelt, wie der Fall
> einer syrischen Familie zeigt. Auch ein neues EU-System ändert das nicht.
Bild: Auch künftig wird es kein Verfahren geben, das Flüchtlinge halbwegs ger…
BRÜSSEL taz |Beim ersten Mal verlor Berevan Yousef Al-Haji ihr Kind.
Nachdem der Geheimdienst ihren Mann Ali Majid, ein Mitglied der
oppositionellen Kurdenpartei, verhaftet hatte, kamen Polizisten in das Haus
der Familie im syrischen Grenzort Ras al-Ain.
Mit Waffen bedrohten sie die schwangere Frau und sagten, dass sie Ali
getötet hätten. Tatsächlich lebte der, doch als er nach acht Wochen
freigelassen wurde, war sein Körper entstellt von den Stromschlägen, mit
denen er gefoltert wurde.
Als Ali sich auch später weigerte, für Assads Geheimdienst zu spionieren,
kamen die Polizisten zurück. Wieder verwüsteten sie das Haus, wieder nahmen
sie Ali mit, wieder folterten sie ihn. Dann hielt die Familie es nicht mehr
aus. Mit den vier Kindern im Alter von eins bis sieben flohen sie Ende 2010
über Algerien nach Rom.
Dort nahm die Polizei ihre Fingerabdrücke auf und sperrte sie ein. Nach
einigen Tagen wurde die Familie auf die Straße gesetzt, mit nichts weiter
als einem Papier, auf dem stand, dass sie Italien in vier Wochen zu
verlassen haben. Eine Woche lebten sie auf der Straße, dann holte ein
Verwandter sie ab.
Heute sitzen die Majids im Flüchtlingsheim im bayerischen Immenstadt. Ein
Psychologe hat die Mutter für krank erklärt, das Landratsamt Ostallgäu will
die Familie dennoch abschieben – nach Italien. Denn gemäß der „Dublin
II“-Verordnung der EU können die Majids nur dort einen Asylantrag stellen,
weil sie dort in das Schengen-Gebiet eingereist sind.
## Italien überfordert
Doch in Italien stünden sie vor dem Nichts: „Die große Mehrheit der
Asylsuchenden muss in Italien ohne Obdach und ohne gesicherten Zugang zu
Nahrung, Wasser und Elektrizität leben. Auch die Gesundheitsversorgung ist
nicht ausreichend sichergestellt“, urteilte am 2. Juli das
Verwaltungsgericht Stuttgart im Fall einer anderen syrischen Familie.
Wehren können die Majids sich trotzdem nicht: Widersprüche gegen die
sogenannten Dublin-Abschiebungen haben keine aufschiebende Wirkungen.
Abgeschoben wird sofort, verhandelt wird später.
Glaubt man der EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström, dann sollen
Geschichten wie die der Majids künftig der Vergangenheit angehören. In der
letzten Woche präsentierte Malmström in Brüssel das Ergebnis der
jahrelangen Verhandlungen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsytem (GEAS).
„Das System der Vergangenheit war wie eine grausame Lotterie für die
Flüchtlinge“, sagte Malmström – ihre Behandlung innerhalb Europas ist
extrem unterschiedlich, je nachdem, wo sie landen.
Während die Außengrenzen-Staaten wie Griechenland, Zypern, Malta, Ungarn
oder Italien Flüchtlinge erst in Internierungslagern einsperren, um sie
dann meist sich selbst zu überlassen, gewähren viele Staaten Zentral- und
Nordeuropas relative Freiheit und Versorgung. Und während Frankreich
letztes Jahr nur jeden zehnten Asylantrag anerkannt hat, waren es in den
Niederlanden fast die Hälfte.
„Zehn EU-Länder nehmen 90 Prozent der Flüchtlinge auf. 17 Länder könnten
also mehr tun“, sagt Malmström. Im Stockholmer Programm von 2008 hatte die
EU sich deshalb auf das „zentrale Ziel“ verpflichtet, ihr Asylsystem bis
Ende 2012 zu harmonisieren. „Unser Ziel war: Schutz zu würdevollen
Bedingungen. Denn trotz der Krise sind wir noch immer eine der
wohlhabendsten Regionen der Welt“, sagt Malmström.
## Große EU-Staaten bremsen
Die GEAS-Verhandlungen stehen nun kurz vor dem Abschluss. Am Donnerstag
beraten die EU-Innenminister in Brüssel über das GEAS, wenn Parlament,
Kommission und Rat sich wie geplant noch vor Weihnachten auf das Paket
einigen, sei dies ein „historischer Schritt“, sagt Malmström. Sie verweist
auf bessere Rechte für Schwangere, Kranke und unbegleitete Minderjährige,
auf leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt und Mindeststandards für
Sozialleistungen und Wohnungen.
Das in Malta ansässige European Asylum Support Office soll künftig EU-weit
Entscheider trainieren, damit Prozedere und Anerkennungspraxis vergleichbar
werden und um die „Qualität der Entscheidungen zu erhöhen“. Ländern wie
Italien und Griechenland soll mit Know-how und Geld geholfen werden,
annehmbare Lebensbedingungen für Asylsuchende zu schaffen.
In den kommenden zehn Jahren werde „alles besser“, sagt Malmström, „mehr
Länder werden die Infrastruktur haben, um Schutz zu bieten“, und irgendwann
werden nicht mehr einige Länder sehr viel beliebter sind bei Flüchtlingen
als andere.
Das muss bezweifelt werden. Denn die Kommission, die zu Beginn der
Verhandlungen sehr weitreichende Verbesserungen vorgeschlagen hat, konnte
nur wenig davon gegen Großbritannien, Frankreich und Deutschland
durchsetzen. Kaum irgendwo ist die Neigung der Mitgliedstaaten so groß,
ihre Souveränität gegen Brüssel zu behaupten, wie bei der Migration.
## Kaum Veränderungen
Die Punkte, an denen das EU-Asylsystem krankt, tastet der Kompromiss
deshalb nicht an: Auch künftig wird es kein Verfahren geben, das
Flüchtlinge halbwegs gerecht über Europa verteilt, statt sie in den ärmeren
Außengrenzen-Staaten zu ballen. Auch künftig wird es keine Möglichkeit des
legalen Zugangs zum EU-Territorium und kein Verbot geben, Flüchtlinge
einzusperren, die keine Straftat begehen.
„Mit allem, was als ’Pull-Faktor‘ gilt, also Flüchtlinge anziehen könnt…
kamen wir bei den Mitgliedstaaten nicht durch“, sagt ein Brüsseler Diplomat
dazu. Hinzu kommt, dass die Problemländer in Südeuropa kein Geld haben, um
die verbesserten Standards zur Unterbringung und Versorgung einzulösen –
die künftig vorgesehenen Zuschüsse aus Brüssel dürften dies kaum
ausgleichen.
„Das neue System geht nicht weiter als das, was es bisher gab“, sagt auch
Elisabeth Colett, die Direktorin des Europäischen Instituts für
Migrationspolitik. „Bei den Verhandlungen ging es nicht um die Bedürfnisse
der Flüchtlinge, sondern darum, die Asyl-Zahlen zu drücken.“
5 Dec 2012
## AUTOREN
Christian Jakob
Christian Jakob
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Flüchtlinge
Asyl
Asylrecht
EU-Recht
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