# taz.de -- Flüchtlingspolitik in Australien: Einwanderer zweiter Klasse | |
> Australien gilt als Einwanderungsland. Doch wer mit dem Boot den fünften | |
> Kontinent ansteuert, landet im Flüchtlingslager – auf unbestimmte Zeit. | |
Bild: Beim Sport und bei Freizeitangeboten können die Flüchtlinge Punkte samm… | |
SYDNEY taz | „Ich bin seit drei Jahren hier“, sagt Ranil Ganhewa* aus Sri | |
Lanka mit bedrückter Stimme. Der Mittdreißiger steht am Rand des | |
Sportplatzes im Internierungslager Villawood im gleichnamigen Vorort von | |
Sydney. Hier sind in einem Industriegebiet hinter hohen mehrfachen Draht- | |
und Gitterzäunen 360 Asylbewerber und Abschiebehäftlinge eingesperrt, | |
manche seit Jahren. | |
„Meine Freunde vom Flüchtlingsschiff sind längst frei. Warum ich | |
eingesperrt bleibe, weiß ich nicht“, sagt Ganhewa. Der Pressebetreuer des | |
Migrationsministeriums vermutet, Australiens Geheimdienst stufe Ganhewa als | |
Sicherheitsrisiko ein. Die Gründe wird er wohl nie erfahren. | |
Villawood ist eines von 22 Internierungslagern, die Australien auf seinem | |
Territorium betreibt. Im Oktober letzten Jahres waren landesweit mehr als | |
5.400 Asylbewerber zwangsinterniert. Inzwischen dürften es einige tausend | |
mehr sein. Hinzu kommt ein weiteres Lager im winzigen Pazifikstaat Nauru | |
und eines auf der Insel Manus in Papua-Neuguinea. | |
Sie wurden nach einer Kehrtwende der australischen Asylpolitik im September | |
und November 2012 wiedereröffnet und haben zusammen weitere 2.100 Plätze. | |
Im Unterschied zu den modernen zweigeschossigen Gebäuden im renovierten | |
Lager Villawood müssen die Flüchtlinge in den pazifischen Lagern in Zelten | |
leben. | |
## Einwandern ja, aber nicht per Boot | |
Die ersten weißen Einwanderer kamen vor 225 Jahren Jahren mit Schiffen aus | |
Europa auf den fünften Kontinent. Es waren Sträflinge, und ihre erste | |
Siedlung hieß Sydney. Das Vergehen der Internierten von heute besteht | |
darin, es ihnen gleichgetan zu haben. Sie gelangten in der Regel von | |
Indonesien aus per Boot zur 350 Kilometer südlich gelegenen australischen | |
Weihnachtsinsel. | |
Wären sie mit dem Flugzeug direkt auf das australische Festland geflogen, | |
wofür sie aber ein Visum gebraucht hätten, wären sie nicht interniert. | |
Dabei werden von den Flüchtlingen, die die riskante Fahrt auf überfüllten | |
alten Fischkuttern wagen und meist aus Afghanistan, Sri Lanka, Iran und | |
Irak kommen, letztlich mehr als asylberechtigt anerkannt als von denen, die | |
direkt einfliegen. | |
Die sogenannten Boat People sind im Einwanderungsland Australien, wo knapp | |
die Hälfte der Gesamtbevölkerung im Ausland geboren wurde oder mindestens | |
ein Elternteil ausländischer Herkunft hat, diejenigen auf der untersten | |
Stufe aller Migranten. Ein harter Umgang mit den Bootsflüchtlingen, die | |
sich meist mithilfe von Menschenschmugglern selbst auf den Weg machen, | |
bringt Wählerstimmen. Dem konservativen Premier John Howard gelang so 2001 | |
eine schon verloren geglaubte Wiederwahl. | |
Australier rühmen sich ihres Sinns für Fairness. Die Regierung bezeichnet | |
die Bootsflüchtlinge als „Vordrängler“, weil sie im Rahmen der von ihr | |
selbst festgelegten Flüchtlingsquote für jeden als Asylbewerber anerkannten | |
Bootsflüchtling einen Flüchtling weniger aufnimmt, der aus einem Lager | |
irgendwo auf der Welt kommt und dort vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR | |
anerkannt wurde. | |
## Das Vordrängler-Argument | |
Doch Flüchtlingsorganisationen weisen darauf hin, dass die von der | |
Regierung gemachte Verknüpfung künstlich und vielmehr politisch gewollt | |
ist. In Wirklichkeit würden nur ganz wenige Menschen aus Lagern aus anderen | |
Ländern überhaupt Aufnahme finden. Doch das Vordrängler-Argument nutzt | |
inzwischen auch die heutige Regierung. | |
Im Lager Villawood bei Sydney haben die Flüchtlinge Sport- und | |
Freizeitmöglichkeiten, Klimaanlagen und 16 Stunden täglich kostenlosen | |
Internetzugang. Für die Teilnahme an Kursen wie etwa Englisch gibt es | |
Punkte, die sie gegen Dinge des persönlichen Bedarfs tauschen können. | |
Manche Australier dürften die Flüchtlinge zumindest um ihren Standard in | |
Villawood beneiden. Wegen der Nähe zu Sydney ist es zum Vorzeigelager | |
geworden, auch wenn der neue und noch unüberwindbarere Zaun mit seinem Rohr | |
auf der Oberkante an die Berliner Mauer erinnert. | |
Der Pressebetreuer des Migrationsministeriums (Motto: „Menschen sind unser | |
Geschäft“) nennt die Internierten, oft traumatisierte Flüchtlinge, manchmal | |
auch Kinder, „Kunden“ und sagt zur Abschreckungspolitik durch Lager: „Wir | |
bieten hier die Dienstleistung der Internierung.“ Auf mehrsprachigen | |
Schildern wirbt ein Flüchtlingsombudsmann: „In Australien gibt es ein | |
Beschwerderecht.“ Das wird Ranil Ganhewa aus Sri Lanka gegen das Votum des | |
Geheimdienstes kaum helfen. Eher kann das Ministerium hoffen, dass er eines | |
Tages von der Internierung so zermürbt ist, dass er seiner „freiwilligen“ | |
Rückführung nach Sri Lanka zustimmt. | |
Auf noch mehr Abschreckung zielen die wiedereröffneten Lager außerhalb | |
Australiens. Von den 1.637 Flüchtlingen, die Australien von 2002 bis 2008 | |
im Rahmen der sogenannten pazifischen Lösung nach Nauru und Manus schickte, | |
kehrten denn auch 483 „freiwillig“ in ihre Herkunftsländer zurück. | |
Australien nahm 705 auf, Neuseeland 401. Die gewünschte Wirkung der | |
pazifischen Lager war, dass damals die Zahl der in Australien landenden | |
Flüchtlingsboote stark zurückging. | |
## Inhumane Flüchtlingsverschickung | |
2008 beendete die neue Labor-Regierung von Kevin Rudd die von ihm selbst | |
als inhuman bezeichnete Flüchtlingsverschickung in den Südpazifik. Auch | |
gelang es, die durchschnittliche Verweildauer in den Lagern in Australien | |
zu reduzieren. Doch stieg die Zahl der Flüchtlinge wieder an, die sich auf | |
die gefährliche Fahrt zur Weihnachtsinsel machten. Eine Expertenkommission | |
schätzt, dass dabei von Ende 2001 bis Juli 2012 964 Asylbewerber ertranken, | |
davon 604 seit Oktober 2009. | |
Die Verhinderung gefährlicher Überfahrten wurde so zum Hauptargument der | |
Labor-Regierung unter Rudds Nachfolgerin Julia Gillard, als sie im August | |
2012 zur Politik der pazifischen Lager zurückkehrte. Doch geht es wirklich | |
darum, Asylbewerber vor dem Ertrinken zu bewahren? Oder ist das Ziel nicht | |
vielmehr, dass die Flüchtlinge gar nicht erst Australien erreichen? | |
„Australier haben große Furcht vor einer Invasion aus dem Norden“, sagt der | |
Migrationsforscher Stephen Castles von der Universität Sydney. „Schließlich | |
haben wir ja selbst einmal das Land den Einheimischen weggenommen und | |
fürchten nun, dass uns dasselbe passiert.“ Er verweist auf den Widerspruch, | |
dass sich die Zahl der von Australien aufgenommenen Migranten (ohne | |
Flüchtlinge) in den letzten 15 Jahren von 82.500 (1995/96) auf 168.685 | |
(2010/11) pro Jahr mehr als verdoppelt hat. „Die Boat People dienen als | |
Sündenböcke“, meint Castles. | |
Der Journalist und Buchautor David Marr sagt: „Mit der ’pazifischen Lösung… | |
erweckte Premier Howard den Eindruck der Kontrolle. Das ermöglichte ihm, | |
die Zahl der Einwanderer stark zu erhöhen. So konnte er die rechte Partei | |
One Nation kleinhalten und zugleich die von der Wirtschaft benötigten | |
Arbeitskräfte ins Land holen.“ Laut Marr schreckt die Internierung keine | |
Flüchtlinge ab, sondern dient der Beruhigung der Bevölkerung. | |
## Boat People sind nicht willkommen | |
Castles verweist darauf, dass in den letzten 15 Jahren parallel zur | |
gestiegenen Aufnahme von Einwanderern die Zahl der aufgenommenen | |
Flüchtlinge von 16.252 auf 13.799 zurückging. Eine Expertenkommission der | |
Regierung empfahl deshalb auch, die Zahl der aufzunehmenden Flüchtlinge | |
künftig auf 20.000 Flüchtlingen zu erhöhen. „Es ist paradox: Flüchtlinge | |
sind willkommen, aber Boat People werden kriminalisiert“, sagt Castles. | |
Studien zufolge wirken sich in Australien alle Migrantengruppen positiv auf | |
die Wirtschaft und Gesellschaft aus. Fiskalisch profitiert der Staat im | |
Schnitt ab dem 13. Jahr von einem Flüchtling, bei Fachkräften schon früher. | |
„In der Vergangenheit lag der Schwerpunkt unserer Einwanderungspolitik auf | |
der Familienzusammenführung“, sagt Migrationsminister Chris Bowen. „Heute | |
liegt er auf qualifizierten Arbeitskräften, weil wir sie brauchen. Sie | |
nehmen keine Jobs weg, sondern schaffen welche. Um Wirtschaftsprojekte | |
überhaupt durchzuführen oder im Kosten- und Zeitplan zu halten, brauchen | |
wir Arbeitskräfte.“ | |
Bisher hatte die Rückkehr zur „pazifischen Lösung“ den unerwarteten Effek… | |
dass die Zahl der in australischen Gewässern eintreffenden Bootsflüchtlinge | |
nicht zurückging, sondern sogar anstieg. So kamen von August bis November | |
vergangenen Jahres 7.929 weitere Asylbewerber übers Meer, also viel mehr, | |
als die Lager in Nauru und Manus Plätze bereitstehen. | |
Für eine veränderte Politik hat das nicht gesorgt. Während die Regierung | |
von Torschlusspanik unter den Flüchtlingen ausgeht, fordert die | |
konservative Senatorin Michaelia Cash, migrationspolitische Expertin der | |
Opposition: „Wir müssen die Boote wieder zurück aufs Meer schicken!“ | |
*Name geändert | |
4 Jan 2013 | |
## AUTOREN | |
Sven Hansen | |
Sven Hansen | |
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