# taz.de -- NSU-Untersuchungsausschuss: Eine erschreckende Bilanz | |
> 70 Sitzungen, fast 100 Zeugenvernehmungen und 11.667 Aktenordner. Der | |
> NSU-Ausschuss beendet seine Arbeit – mit 10 signifikanten Ergebnissen. | |
Bild: Der Ausschussvorsitzende, Sebastian Edathy, hat Monate mit Erkenntnissen … | |
## Ziellose Zielfahnder – trotz Hinweisen | |
Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe tauchten überstürzt unter, als | |
am 26. Januar 1998 in Jena die Garage durchsucht wurde, in der das Trio | |
Bomben baute. Für die Zielfahnder der Polizei eigentlich ideal, | |
hinterließen die drei doch zahlreiche Hinweise darauf, wo sie zu finden | |
sein könnten. Doch die wichtigsten wurden ignoriert. | |
Zentral ist eine Adressliste, die Mundlos bei der Flucht liegen ließ. Sie | |
liest sich heute wie ein Who’s who der NSU-Unterstützer. Die Namen von zwei | |
der nun als NSU-Helfer Angeklagten stehen darauf. Zehn Einträge führten | |
nach Chemnitz, wo das Neonazi-Trio die ersten zwei Jahre im Untergrund | |
lebte. Auch Kontakte in Städten, in denen der NSU mordete, finden sich | |
dort. | |
Diese „Garagenliste“, so sagte ein Thüringer Zielfahnder im | |
Untersuchungsausschuss, habe ihn nie erreicht. Vermutlich ist sie im | |
Landeskriminalamt versandet – einer der schlimmsten Fahndungsfehler in der | |
Geschichte der Bundesrepublik. | |
## Ermittler im V-Leute-Debakel | |
Ein riskantes Spiel: Um an Infos aus abgeschotteten Milieus zu kommen, | |
versuchen die Dienste und die Polizei, Extremisten zu finden, die gegen | |
Geld zum Verrat bereit sind. | |
Das Neonazi-Trio war umzingelt von solchen V-Leuten – und konnte dennoch | |
ungestört morden. Mindestens neun V-Leute bewegten sich laut einer geheimen | |
Liste im Umfeld der drei. Sie trugen Tarnnamen wie „Piatto“, „Corelli“ … | |
„Otto“. Manche von ihnen waren brutale Gewalttäter. Einer saß wegen | |
Mordversuchs an einem Nigerianer im Gefängnis, und wurde noch während der | |
U-Haft V-Mann. | |
Skandalträchtig ist vor allem der Fall Thomas S. Er beschaffte dem Trio | |
Sprengstoff und verhalf ihm nach dem Abtauchen zu einer Unterkunft. Später | |
wurde er V-Mann des Berliner Landeskriminalamts. Zwar machte er 2002 vage | |
Andeutungen über drei flüchtige Thüringer, verschwieg aber alles Weitere. | |
Heute beschuldigt die Bundesanwaltschaft S. als NSU-Helfer. | |
## Geheimschutz ging vor | |
Auch wenn die V-Leute im Umfeld des NSU nicht alles berichteten, was sie | |
wussten, oder sogar dreist logen, hatten die Geheimdienste genügend | |
Hinweise, aus denen sie hätten schließen müssen: Die drei Neonazis sind in | |
Sachsen und bilden im Untergrund eine bewaffnete Bande. | |
Es gab Hinweise auf ein erstes Versteck des Trios in Chemnitz, darauf, dass | |
sich die drei Waffen beschaffen wollten, dass sie Überfälle begehen | |
könnten. Im September 1999 sagte ein Neonazi dem Militärischen | |
Abschirmdienst, er glaube, dass die drei sich „auf der Stufe als | |
Rechtsterroristen“ bewegten. | |
Die Polizei erfuhr von all dem jedoch nichts. Die Dienste – allen voran der | |
Thüringer Verfassungsschutz – behielten es für sich. Geheimschutz ging vor | |
Menschenschutz. | |
## Schuldige statt Opfer | |
Günther Beckstein hatte den richtigen Riecher. Am 9. September 2000 war in | |
Nürnberg der Blumenhändler Enver Simsek erschossen worden. Zu einem | |
Zeitungsbericht vermerkte der bayerische Innenminister: „Ist | |
ausländerfeindlicher Hintergrund denkbar?“ | |
Die Polizei antwortete, es gebe dafür „keine Anhaltspunkte“. Sie vermutete | |
Verbindungen zur Drogenmafia, weil Simsek regelmäßig in Holland Blumen | |
gekauft hatte. | |
Bei den späteren Morden ging es so weiter. Glücksspiel, Schutzgeld, | |
Rauschgift: die Polizei vermutete den Hintergrund fast ausschließlich in | |
der organisierten Kriminalität. Die Opfer wurden zu Mitschuldigen. Die | |
Polizei hörte Telefone der Angehörigen ab, verwanzte deren Autos und | |
schleuste verdeckte Ermittler in ihr Umfeld ein. | |
## Richtige Fragen, falsche Antworten | |
„Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten“ heißt ein | |
internes Papier des Bundesamts für Verfassungsschutz vom Juli 2004. Darin | |
stellte der Dienst richtige Fragen – kam aber zu völlig falschen Antworten: | |
„keine rechtsterroristischen Strukturen erkennbar“, „keine wirkungsvolle | |
Unterstützerszene, um einen nachhaltigen Kampf aus dem Untergrund heraus | |
führen zu können“, „mit Anschlägen auf Objekte ist eher zu rechnen als m… | |
solchen auf Personen“. | |
Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe werden in dem Papier explizit genannt. Das | |
lapidare Fazit: Seit dem Abtauchen hätten sich „keine Anhaltspunkte für | |
weitere militante Aktivitäten der Flüchtigen ergeben“. | |
Zu diesem Zeitpunkt hatte der NSU schon fünf Menschen ermordet und zwei | |
Bombenanschläge verübt. Auch das Kürzel der Terrorgruppe war in dem | |
Neonazi-Heft Der Weisse Wolf bereits aufgetaucht. Dort hieß es: „Vielen | |
Dank an den NSU.“ | |
## Vorurteile, Vorurteile, Vorurteile | |
Es hätte eine Chance gegeben, nach Jahren des Ermittelns in die falsche | |
Richtung doch noch der richtigen Spur nachzugehen. Ein bayerischer | |
Polizeiprofiler legte nach dem neunten Mord des NSU im Mai 2006 eine | |
Analyse vor, wonach sich die Täter vor der Mordserie in der rechten Szene | |
bewegt, diese aber als zu schwach angesehen haben könnten und nun selbst | |
zur Tat schreiten würden. Genau so war es. | |
Doch andere Ermittler wollten der Analyse des bayerischen Polizeiprofilers | |
nicht glauben, sodass das baden-württembergische Landeskriminalamt eine | |
weitere erstellen ließ. Das Papier vom Januar 2007 ist ein erschreckendes | |
Beispiel für rassistische Stereotype in deutschen Behörden. | |
Die Opfer seien mit einer kriminellen südosteuropäischen Bande mit einem | |
„rigiden Ehrkodex“ aneinandergeraten, stand in der neu erstellten Analyse. | |
Deren „Häuptling“ habe die Morde in Auftrag gegeben, um sein Gesicht zu | |
wahren. | |
## Bananenrepublik Deutschland | |
Es hat immer wieder Auftritte von Beamten vor dem NSU-Ausschuss gegeben, | |
die einen ratlos zurückließen: Erinnerungslücken, Einsilbigkeit, | |
Ahnungslosigkeit. Und dann gab es jene Momente, in denen selbst staatstreue | |
Abgeordnete verzweifelten. | |
In Nürnberg und München betrieben V-Personen der Polizei zum Schein | |
Dönerbuden. Rechnungen von Lieferanten wurden absichtlich nicht bezahlt, um | |
damit eine möglicherweise hinter den Taten steckende Dönermafia zu | |
provozieren. Vielleicht würde ja sogar das Killerkommando auftauchen? | |
Die Hamburger Polizei musste sogar zugeben, einen Geisterbeschwörer | |
angeheuert zu haben, der ein NSU-Opfer im Jenseits kontaktierte. Es habe | |
nichts gekostet, verteidigte sich die Behörde. | |
## Zusammenhang nicht erkannt | |
Nach dem Anschlag in der Kölner Keupstraße im Juni 2004 war die Chance, die | |
Täter zu finden, groß. Es gab ein Video von den beiden Tätern, das zeigte, | |
wie sie ihre Bombe auf einem Fahrrad zum Tatort schoben. | |
Auch bei der Migrantenmordserie waren Zeugen zwei Männer mit Fahrrädern | |
aufgefallen. Eine Frau, die in der Nähe eines Tatorts in Nürnberg war, | |
schaute sich das Video mit den Bombern von Köln an – und erkannte | |
Ähnlichkeiten. | |
Doch die Ermittler fanden, dass – wie es hieß – „Äpfel nicht mit Birnen | |
verglichen werden können“. Dabei kursierte auch in der Keupstraße in Köln | |
die Vermutung, dass es zwischen dem Anschlag und den Morden eine Verbindung | |
geben könnte. Die Staatsanwaltschaft Köln hielt das allerdings für eine | |
„Verschwörungstheorie“. | |
## Falsche Prioritäten | |
Ende der neunziger Jahre radikalisierte sich die deutsche Neonazi-Szene. | |
Doch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA verschoben sich | |
die Prioritäten. Der Kampf gegen den islamistischen Terror drängte alles | |
andere in den Hintergrund. | |
Gesetze wurden verschärft, Behörden umgebaut, Personal wurde umgesetzt. In | |
Berlin entstand ein Gemeinsames Terrorabwehrzentrum. Dorthin zog auch der | |
Verfassungsschutz mit seiner neuen Abteilung „Islamismus und islamistischer | |
Terrorismus“. | |
Die Rechtsextremismusabteilung ließ Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) | |
dagegen 2006 mit der Abteilung Linksextremismus zusammenlegen. Erst nach | |
Auffliegen des NSU wurden die Bereiche wieder getrennt. Jetzt gibt es auch | |
ein Abwehrzentrum gegen rechts. | |
## Bekennerschreiben erwartet | |
Man habe die Taten des NSU nicht als Terror erkannt, weil es über Jahre | |
keine Bekenntnisse zu den Taten gegeben habe, entschuldigten sich im | |
NSU-Ausschuss mehrere Beamte. „Dies hätte man auf jeden Fall erwartet“, | |
sagte der Chef des Bundeskriminalamts, Jörg Ziercke. | |
Dabei hat es immer wieder rechte Anschläge ohne Bekennerschreiben gegeben, | |
etwa beim Münchner Oktoberfest 1980 oder in Solingen 1993. Auch in | |
Szene-Anleitungen zum „führerlosen Widerstand“ wird der Untergrundkampf in | |
kleinen „Phantomzellen“ propagiert und von Bekenntnissen abgeraten. | |
Als ein Vorbild wird dort John Ausonius genannt. Anfang der neunziger Jahre | |
schoss er in Schweden immer wieder hinterrücks auf Migranten, einen Mann | |
tötete er. Erst lange nach seiner Verhaftung gestand Ausonius die Taten. | |
Dass seine Taten eine Blaupause für den NSU gewesen sein könnten, darauf | |
kam der Verfassungsschutz erst, nachdem die Terrorgruppe aufgeflogen war. | |
16 May 2013 | |
## AUTOREN | |
Wolf Schmidt | |
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