# taz.de -- Debatte Proteste in Brasilien: Der brasilianische Frühling | |
> Korruption, verfehlte Verkehrspolitik und ein überholtes | |
> Gesellschaftskonzept: Die Brasilianer protestieren gegen ein Bündel von | |
> Problemen. | |
Bild: Eine Demonstrantin im brasilianischen Niteroi | |
Seit 20 Jahren hat Brasilien nicht mehr solch große Massenproteste gesehen. | |
Damals, 1992, ging es um den Sturz des korrupten Staatschefs Fernando | |
Collor de Mello. Jetzt demonstrieren nicht nur Angehörige der | |
Mittelschicht, sondern auch Zehntausende aus den Armenvierteln der Städte. | |
Ausgelöst wurde die Demonstrationswelle durch die „Bewegung für den | |
Nulltarif“ (MPL), die 2005 auf dem Weltsozialforum von Porto Alegre | |
entstanden war. In den letzten Jahren hatte die von der Arbeiterpartei PT | |
angeführte Bundesregierung durch Steuererleichterungen für die | |
Autoindustrie den Individualverkehr angekurbelt und den Dauerstau in | |
Brasiliens Städten auf die Spitze getrieben. Millionen verlieren tagtäglich | |
viele Stunden auf dem Weg zur Arbeit; infolge von Stress und | |
Luftverschmutzung liegt die Lebenserwartung der Bewohner São Paulos drei | |
Jahre unter dem landesweiten Durchschnitt. | |
Nicht einmal im Vorfeld der Fußball-WM 2014 konnten sich Konzepte für einen | |
beherzten Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs durchsetzen. Zahlreiche | |
Projekte blieben in der wuchernden Bürokratie stecken. Im Confederations | |
Cup und in der WM verdichtet sich das Modell einer globalen Apartheid: | |
Milliarden Steuergelder, die anderswo fehlen, fließen in die | |
Fifa-Spektakel, brasilianische und ausländische Multis profitieren. Es | |
bestimmen die Blatters und Valckes, auf den Rängen sind schwarze Fans nicht | |
mehr zu sehen. | |
Immerhin steht jetzt die Debatte über eine vernünftige Verkehrspolitik weit | |
oben auf der politischen Tagesordnung – völlig offen ist allerdings, ob und | |
wie die Kommunen, Bundesstaaten und Brasília umsteuern werden. Denn bislang | |
sind Busse und (einige wenige) U-Bahnen vor allem für die Armen da – | |
entsprechend niedrig sind die Investitionen der öffentlichen Hand. Zudem | |
befinden sich private Transportunternehmen ebenso wie die großen Baufirmen | |
meist in der Hand korrupter Kartelle, die über die von ihnen finanzierten | |
Stadträte und Abgeordneten einen enormen politischen Einfluss ausüben. | |
## Politiker sind mafiösen Interessen ausgeliefert | |
Kommunalpolitiker, auch jene mit besten Absichten, waren und sind diesen | |
mafiösen Interessen ausgeliefert. Bereits 2001 und 2002 wurden zwei | |
prominente PT-Bürgermeister deswegen ermordet; aufgeklärt sind die | |
Mordfälle bis heute nicht. | |
Ähnlich stark ist der Einfluss anderer mächtiger Wirtschaftsinteressen – | |
vom Finanzkapital bis zum Agrobusiness – auf Politik und Justiz: Präsident | |
Luiz Inácio Lula da Silva (2003–10) und seine Nachfolgerin Dilma Rousseff | |
konnten oder wollten keine Strukturreformen umsetzen. Steuer- und | |
Landreform blieben ebenso Makulatur wie die Reform des politischen Systems, | |
die die Präsidentin jetzt unter dem Eindruck der Proteste wiederentdeckt | |
hat. | |
Zudem fand in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen ein regelrechtes | |
Rollback statt. Im Bestreben, ihre konservativen Verbündeten bei der Stange | |
zu halten, räumten die PT-geführten Regierungen viele Positionen. Im | |
Wahlkampf 2010 wollte sich Rousseff nicht mehr zum Recht auf | |
Schwangerschaftsabbruch bekennen, weil sie um Stimmen aus dem | |
rechtskatholischen und evangelikalen Lager fürchtete. | |
## Homosexuellen- und Frauenrechte werden gestutzt | |
Der Menschenrechtsausschuss des Abgeordnetenhauses von Brasília, früher | |
eine PT-Domäne, wird nun von einer rechten Mehrheit dominiert. In der | |
letzten Woche brachte diese einen Gesetzentwurf auf den Weg, der Schwulen | |
und Lesben medizinischen Beistand bei der Abkehr von ihrer sexuellen | |
Orientierung in Aussicht stellt. Der Vorsitzende, ein evangelikaler Pastor, | |
ist bekennender Schwulenhasser. Aus derselben Ecke kommen Bestrebungen, | |
Frauenrechte zurückzustutzen. | |
Im Jahr 2012 wurde unter dem Druck der noch stärker im Parlament | |
vertretenen Agrarier das Waldgesetz ausgehöhlt. Auch hier kam von der PT, | |
die vor zehn Jahren mit der Umweltschutzikone Marina Silva angetreten war, | |
um eine neue Politik für Amazonien durchzusetzen, kaum noch Widerstand. | |
Nun will die Agrarlobby die Verfassungsrechte der indigenen Bevölkerung | |
beschneiden – im Bundesstaat Mato Grosso do Sul, wo die verbliebenen | |
Indianergebiete von Zuckerrohr- und Sojafeldern regelrecht umzingelt sind, | |
werden in Landkonflikten Monat für Monat Indigene ermordet. Die | |
Bundesregierung hüllt sich in peinliches Schweigen. Anders als sämtliche | |
ihrer Vorgänger seit Ende der Diktatur 1985 hat Dilma Rousseff bislang noch | |
keine Delegation der Indigenen empfangen. | |
Und anders etwa als Hugo Chávez in Venezuela oder Evo Morales in Bolivien | |
haben die PT-geführten Regierungen der letzten zehn Jahre auf | |
Klassenversöhnung und Entpolitisierung gesetzt. Bei der Modernisierung des | |
Kapitalismus samt sozialer Abfederung änderte sich jedoch nichts an der | |
ungleichen Verteilung des Reichtums. | |
## Konzept: Rohstoffexport | |
Durch die hochgelobten Sozialprogramme, die nur einen Bruchteil des | |
alljährlichen Schuldendienstes ausmachen, wurde zwar die extreme Armut | |
verringert, doch Rohstoffexport und die Erschließung neuer | |
Konsumentenschichten sind die wichtigsten Wachstumsmotoren. Lula und | |
Rousseff setzten auf Wachstum um jeden Preis und wurden zu Lieblingen der | |
Finanzmärkte und westlicher Leitmedien. | |
Zugleich kooptierten und demobilisierten sie ihre klassische Basis, die | |
Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Deswegen trägt die Arbeiterpartei | |
Mitverantwortung dafür, dass sich die gesellschaftspolitischen Koordinaten | |
deutlich verschoben haben. Die brasilianische Rechte, sonst eher | |
konzeptionslos, kann sich sogar Hoffnungen machen, Teile der Unzufriedenen | |
vor ihren Karren spannen zu können. | |
Viele der aktuellen Forderungen beziehen sich direkt auf das „Recht auf | |
Stadt“, etwa jene nach einem guten öffentlichen Gesundheits- und | |
Bildungswesen oder nach mehr Sicherheit. Die gesellschaftliche Linke – | |
inner- wie außerhalb der PT – müsste diese Forderungen nun zuspitzen und so | |
den fortschrittlichen Kräften in der Regierung, ja der Präsidentin selbst | |
neuen Spielraum verschaffen. | |
27 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Dilger | |
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