# taz.de -- Öffentliche Sicherheit in Brasilien: Der Albtraum der Mittelschicht | |
> Gewalt in einer Favela von Rio endet im Kugelhagel der Polizei. Das Thema | |
> „offentliche Sicherheit“ beschäftigt nun die Protestbewegung. | |
Bild: Ein Mitglied der Bope-Sondereinheit patrouilliert. | |
Im Norden von Rio de Janeiro, in der Favela Nova Holanda, überfallen am | |
Montagabend ein paar Jugendliche Passanten. Sie laufen in kleinen Gruppen | |
durch Seitenstraßen und nehmen Vorbeikommenden ab, was diese gerade bei | |
sich haben: Jacken, Taschen, Rucksäcke. Den über ihren Köpfen kreisenden | |
Hubschrauber eines lokalen Fernsehsenders ignorieren sie einfach. Er filmt | |
eigentlich eine kleine Demonstration in der Nähe. Immer wieder zeigt der | |
Sender TV Record diese Bilder, mit Kommentaren wie „Oh mein Gott, schaut | |
nur, was sie tun!“ | |
Es sind Bilder, die den Albtraum der brasilianischen Mittelschicht zu | |
bestätigen scheinen: Die Armen nehmen uns alles weg, wenn die Polizei uns | |
nicht vor ihnen schützt. Immer wieder kehren die Kommentatoren zu diesen | |
Aufnahmen zurück, während sie in Echtzeit über die Proteste in Rio de | |
Janeiro berichten. | |
Stunden zuvor hatte sich Präsidentin Dilma Rousseff erstmals inhaltlich zu | |
den landesweiten Demonstrationen geäußert. Viele Brasilianer waren darüber | |
zunächst erleichtert. Wie eine wohlmeinende Mutter umarmte die Präsidentin | |
die Proteste und bestätigte, dass umfassender Handlungsbedarf bestehe. Nun | |
will sie noch mehr in Bildung, Gesundheit und öffentlichen Nahverkehr | |
investieren, zudem mit einer Volksbefragung eine umfassende Reform des | |
politischen Systems anstoßen und sich mit Vertretern sozialer Bewegungen | |
treffen. | |
Doch Gewalt werde man auf den Demonstrationen nicht dulden. In fast jedem | |
Kommentar unterscheiden Politik und Medien in diesen Tagen zwischen | |
friedlichen Demonstranten und „Vandalen“. Über das Vorgehen der Polizei bei | |
ihren Einsätzen, das große Thema der letzten Woche, wollen sie nicht mehr | |
sprechen. | |
## Ernüchternde Bilanz | |
Wie absurd das ist, zeigt sich am Mittwoch, als die Polizei von Rio de | |
Janeiro Bilanz ihres Einsatzes in Nova Holanda zieht: Neun Menschen sind in | |
einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Polizeiaktion gegen die Jugendlichen | |
erschossen worden. Ein Soldat der Sondereinheit Bope stirbt, als diese in | |
die Favela eindringt. Nova Holanda ist nicht befriedet und wird von | |
Drogengangs kontrolliert. Im Verlauf der Auseinandersetzung tötet die | |
Polizei acht Menschen und verletzt acht weitere. | |
Die Schießereien dauern bis Dienstag an. Fünf der Toten gelten als | |
verdächtige Drogenhändler, drei als „Unschuldige“. Ein Abend, der mit ein… | |
kleinen Demonstration für besseren öffentlichen Nahverkehr und raubenden | |
Jugendlichen beginnt, endet in einem Blutbad. „Wir wissen, dass niemand | |
hier die Polizei unter Kontrolle hat, wenn sie im Einsatz ist“, sagt Luiz | |
Eduardo Soares am Dienstagabend in Rio de Janeiro. | |
Er ist Professor für Politikwissenschaft und Koautor des verfilmten | |
Bestsellers „Tropa de Elite“, der 2008 in [1][Berlin den Goldenen Bären] | |
gewann. Ungefähr 15 Millionen Zuschauer sahen in Brasilien diesen Film, der | |
wie selbstverständlich davon erzählt, dass die Bope stets Rache schwört, | |
wenn einer von ihnen im Einsatz erschossen wird. | |
Gleichzeitig wagen sich Bewohner, unterstützt von eilig herbeigerufenen | |
Aktivisten, in Nova Holanda auf die Straße und demonstrieren mutig gegen | |
den laufenden Polizeieinsatz. Langsam verbreiten sich die Nachrichten über | |
das Ausmaß der Gewalt durch Social Media. Sie sprechen von noch mehr Toten | |
und Verletzten, von Folter und Einschüchterung. | |
## Terrorismus hart bestrafen | |
Irgendwann zieht der Panzer der Bope ab. Die Demilitarisierung der | |
brasilianischen Polizei fehlt bislang in Rousseffs Liste der notwendigen | |
Reformen. Ironischerweise wird im Kongress in der Hauptstadt Brasília aber | |
gerade ein Gesetz diskutiert, das den Tatbestand des Terrorismus neu | |
definieren und hart bestrafen soll. | |
Es gehe um die „Sicherheit der Städte“ während der | |
Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele zwei Jahre | |
später. Rousseff hatte als Jugendliche selbst in einer bewaffneten | |
Stadtguerilla gegen die Militärdiktatur gekämpft, war verhaftet und | |
gefoltert worden. Ausgerechnet jetzt, während der Unruhen im ganzen Land, | |
treibt der Kongress das Gesetz voran. | |
Als die Arbeiterpartei (PT) an die Regierung kam, legte sie den Schwerpunkt | |
auf den Ausbau des Bildungs- und Gesundheitssystems, um die Armut zu | |
bekämpfen. Sie griff damit eine der zentralen Ursachen der | |
Alltagskriminalität an und erzielte beachtliche Erfolge. Aber die | |
unerträglichen Zustände in den Gefängnissen und die Polizeiwillkür blieben | |
unangetastet, obwohl einige Mitglieder der PT während der Militärdiktatur | |
misshandelt worden waren. Die Mitte-links-Regierung übernahm den alten | |
Machtapparat und nutzt ihn wie eh und je zur Aufstandsbekämpfung. | |
Am Dienstag ruft das Forum gegen die Erhöhung der Buspreise in Rio zur | |
Vollversammlung. Tausende kommen, die Organisatoren sind überwältigt. Die | |
Versammlung droht an internen Konflikten zu scheitern. Dann setzt sich die | |
Menge durch – sie weigert sich, Punkte durchwinken, die bereits beschlossen | |
sind, lieber will sie die neue Lage diskutieren. Nach über siebzig | |
Wortmeldungen, viele zu den Ereignissen in Nova Holanda, steht die | |
Forderung nach einer Demilitarisierung der Polizei. | |
27 Jun 2013 | |
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[1] http://blogs.taz.de/popblog/2008/02/12/berlinale-5-go-go-second-time-virgin… | |
## AUTOREN | |
Astrid Kusser | |
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