# taz.de -- Der sonntaz-Streit: „Protest schafft Wohlstand“ | |
> In Brasilien und der Türkei demonstrieren die Menschen. Schafft Wohlstand | |
> Protest? Ja, den Armen bleibe gar keine Zeit für Demos, meint eine | |
> Brasilianerin. Claudia Roth widerspricht. | |
Bild: Dem geht's wohl zu gut? Proteste in Rio de Janeiro, Brasilien. | |
Seit Wochen gehen in Istanbul und São Paulo Menschen auf die Straße und | |
protestieren gegen ihre Regierungen. Sie sind nicht arm – genau so wenig | |
sind sie reich. Es ist die heranwachsende Mittelschicht, die protestiert. | |
Ist ein gewisser Wohlstand also notwendig, um sich zu erheben? | |
Die Bundesvorsitzende der Grünen, Claudia Roth, besuchte erst kürzlich | |
Demonstranten auf dem Taskimplatz. Im sonntaz-Streit sagt sie: „Mehr | |
Wohlstand heißt in der Regel mehr Zufriedenheit und nicht mehr Protest.“ So | |
seien es vor allem Ungerechtigkeit und Demokratiedefizite, die die Menschen | |
auf die Straße treiben: „Das Gefühl ausgeschlossen zu sein, nicht gehört zu | |
werden, an der demokratischen Willensbildung nicht teilzuhaben.“ | |
Die Autorin Kathrin Hartmann gesteht zwar ein, dass in der Türkei und | |
Brasilien vor allem „gebildete Mittelständler“ auf die Straße gehen. Aber | |
nicht ihr vermeintlicher Reichtum treibe sie an, sondern „der Zorn darüber, | |
dass Wohlstand durch Wachstum nur für die Eliten in Erfüllung geht.“ | |
Senem Gökce Ogultekin untermauert dieses Bild des „vermeitlichen | |
Reichtums“. Die türkischstämmige Tänzerin lebt in Berlin und war bei den | |
Protesten in Istanbul dabei. „Man kann sich vom Schein des finanziellen | |
Wachstums in der Türkei leicht täuschen lassen. Meine Verwandten haben | |
iPhones, teure Autos und Flat-Screen-Fernseher, aber die ökonomische | |
Kapazität basiert nur auf Kreditkarten und Schulden.“ Der finanzielle Boom | |
in der Türkei habe wenige Menschen reicher, die Mehrheit aber ärmer | |
gemacht, sagt Ogultekin. Deshalb gehe man protestieren. | |
Nicht Wohlstand schaffe Protest, sagt Eva Maria Welskop-Deffaa, Mitglied im | |
Verdi-Bundesvorstand – aber „Protest schafft Wohlstand.“ Außerdem sei ni… | |
Wohlstand, sondern Entbehrung der Nährboden für Widerspruch. | |
Franz Walter, Poltikwissenschaftler am Göttinger Institut für | |
Demokratieforschung, sieht das anders. „Elementare Daseinssorge entmutigt“, | |
findet er. Fast alle bedeutenden gesellschaftlichen Bewegungen seien in | |
Zeiten ökonomischen Aufschwungs entstanden – die Oktoberrevolution genauso | |
wie die Französiche Revolution. „Erwartung, Hoffnung und Zukunft sind | |
unverzichtbare Voraussetzungen für den zielorientierten Protest.“ Bittere | |
Not hingegen führe höchstens zu kurzzeitigen Tumulten, am häufigsten aber | |
zu Resignation. | |
Die Brasilianerin Morgana Nunes teilt diese Ansicht. „Ein gewisser | |
Wohlstand ist Voraussetzung für Protest“, sagt die vierundzwanzigjährige | |
Architekturstudentin. Es sei kein Zufall, dass die Leute, mit denen sie in | |
São Paulo auf die Straße geht, überwiegend der Mittelschicht angehören. Sie | |
hätten Zugang zu wichtigen Informationen und die Möglichkeit, sich über | |
Facebook zu vernetzen. „Die Armen müssen erst einmal schauen, wie sie über | |
die Runden kommen.“ Da sie den ganzen Tag arbeiten und weit draußen in den | |
Randbezirken leben, „bleibt keine Zeit für Demonstrationen.“ | |
Die sonntaz-Frage beantworten außerdem Michael Sommer, Vorsitzender des | |
Deutschen Gewerkschaftsbunds, Eugen Maria Schulak, Philosoph und Autor, | |
sowie Dieter Rucht, Experte für Protest- und Bewegungsforschung – in der | |
aktuellen sonntaz vom 29./30. Juni 2013. | |
29 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Lukas Kleinhenz | |
## TAGS | |
Streitfrage | |
Wohlstand | |
Protest | |
Demonstrationen | |
Schwerpunkt Türkei | |
Brasilien | |
Stuttgart | |
Polizei | |
Protest | |
Schwerpunkt Türkei | |
Streitfrage | |
Schwerpunkt Türkei | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Öffentliche Sicherheit in Brasilien: Der Albtraum der Mittelschicht | |
Gewalt in einer Favela von Rio endet im Kugelhagel der Polizei. Das Thema | |
„offentliche Sicherheit“ beschäftigt nun die Protestbewegung. | |
Debatte Proteste in Brasilien: Der brasilianische Frühling | |
Korruption, verfehlte Verkehrspolitik und ein überholtes | |
Gesellschaftskonzept: Die Brasilianer protestieren gegen ein Bündel von | |
Problemen. | |
Zukunft der türkischen Proteste: „Jeder Park ist Gezi“ | |
Sie lehnt eine konservative Gesellschaft ab. Sie will Presse- und | |
Meinungsfreiheit. In Istanbul diskutiert die Protestbewegung in Parks über | |
die Zukunft. | |
Der sonntaz-Streit: Schafft Wohlstand Protest? | |
Die Wirtschaft in der Türkei und Brasilien wächst – und trotzdem gehen dort | |
die Menschen auf die Straße. Macht Wohlstand unzufrieden? | |
Riesenprotest in Köln gegen Erdogan: „Überall ist Taksim!“ | |
Zehntausende Menschen haben in Köln gegen den türkischen Premier Erdogan | |
demonstriert. Friedlich bleibt es wohl auch, weil Erdogan-Anhänger zuhause | |
blieben. |