# taz.de -- Brasilien in Aufruhr: Präsidentin setzt auf Referendum | |
> Dilma Rousseff verspricht, die Korruption zu bekämpfen und mehr | |
> Demokratie zu wagen. Die rechte Opposition schäumt, während der Protest | |
> auf der Straße weitergeht. | |
Bild: Die Protestierenden machen sich ein eigenes Bild von der Präsidentin. | |
RIO DE JANEIRO taz | Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff hat die | |
politische Initiative zurückgewonnen – vorläufig. Sie lud die Gouverneure | |
aller 27 Bundesstaaten und die Bürgermeister der 26 größten Städte ein, um | |
am Montag ein großes Reformpaket zu verkünden. Das politische System soll | |
reformiert, Korruption härter bestraft und viel mehr Geld für öffentliche | |
Dienstleistungen ausgegeben werden. Die rechte Opposition schäumt, | |
insbesondere der Umbau politischer Institutionen sei „unrealistisch und ein | |
Ablenkungsmanöver“. | |
Zuvor traf Rousseff Vertreter der „Bewegung für Nulltarif“, deren Forderung | |
nach Rücknahme von Buspreiserhöhungen vor drei Wochen die Protestwelle | |
auslöste, die allein am vergangenen Donnerstag über 1,5 Millionen Menschen | |
auf die Straße brachte. Rousseff will zeigen, dass sie die Forderungen der | |
Demonstranten ernst nimmt. „Die Präsidentin war komplett unvorbereitet“, | |
sagte MPL-Sprecherin Mayara Vivian nach dem Treffen. „Keine Informationen, | |
kein konkreter Vorschlag.“ | |
Die Demonstranten haben derweil eine Verschnaufpause eingelegt. Zwar gehen | |
jeden Tag noch Tausende in allen Landesteilen auf die Straße, doch seit dem | |
Wochenende ist es etwas ruhiger in Brasilien. „Ich muss mich doch auch mal | |
wieder um den Alltag kümmern,“ sagt Vitor abends in einer der Szenekneipen | |
im Zentrum von Rio de Janeiro. „Aber keine Bange, wer nicht ausschläft, ist | |
auf einer der vielen Versammlungen, die den Fortgang der Demos beraten.“ | |
Für Donnerstag sei der nächste Protestmarsch angekündigt, zumindest in Rio | |
de Janeiro. Am Sonntag ist das Endspiel des Confederetions-Cup im | |
Maracanã-Stadion. „Es ist der Aktionstag gegen Häuserräumungen wegen der | |
WM, wir befürchten, dass vor dem Stadion auch das Militär eingreifen wird“, | |
so Vitor. | |
Der Vorstoß für eine Politikreform war ein geschickter Schachzug von | |
Präsidentin Rousseff. Per Referendum soll eine Verfassungsgebende | |
Versammlung einberufen werden, die die Reform formulieren soll. Ziel sei, | |
die „Beteiligung der Bevölkerung am politischen Geschehen zu erweitern“, so | |
die Präsidentin. | |
## 18 Milliarden Euro für urbane Mobilität | |
Seit 15 Jahren steht das Thema auf der Tagesordnung – bis heute | |
ergebnislos. Dabei geht es unter anderem um die Rolle der Parteien, die | |
Wahlkampffinanzierung und die herrschende Wahlpflicht. In Brasilien werden | |
zumeist die Politiker persönlich gewählt, nicht ihre Parteien oder deren | |
politische Positionen. | |
Oft wechseln Gewählte mehrfach die Partei und richten ihre Politik nicht | |
nach inhaltlichen Kriterien sondern daran aus, wie sie sich und ihrem Clan | |
die meisten staatlichen Pfründe sichern können. Ebenso wie die | |
unzureichende Parteienfinanzierung gilt das auf Personenwahl ausgerichtete | |
Wahlsystem als Ursache für Korruption und Vetternwirtschaft. | |
Rousseff tritt außerdem dafür ein, Korruption in Zukunft als | |
schwerwiegendes Verbrechen einzustufen und mit höheren Strafen zu ahnden. | |
Für Bildung, Gesundheit und den öffentlichen Nahverkehr kündigte sie | |
weitgehende Reformen und mehr Investitionen an. Allein für urbane Mobilität | |
sollen umgerechnet 18 Milliarden Euro ausgegeben werden. Die Qualität der | |
Dienstleistungen solle in Zukunft besser kontrolliert und eine Beteiligung | |
der Bürger bei der Planung garantiert werden, so Rousseff. | |
Damit konkretisierte die Präsidentin die halbherzigen Vorhaben, die sie am | |
Freitag als erste Reaktion auf die Protestwelle verkündet hatte. | |
Wohlüberlegt hat sie alle regionalen Entscheidungsträger mit einbezogen, | |
auch um deutlich zu machen, dass nicht nur die Bundesregierung sondern | |
viele Gouverneure und Bürgermeister Zielscheibe des Protestes waren. | |
Rechtswissenschaftler bezweifeln allerdings, dass der von Rousseff | |
angestrebte, komplizierte Weg der Reform über Volksabstimmung und | |
Verfassungsänderung gangbar ist. Zumal lediglich der von korrupten | |
Abgeordneten und Senatoren durchsetzte Kongress befugt ist, Referenden | |
einzuleiten. | |
Und immer wieder ist unter den Politikern auch die Frage herauszuhören: | |
„Wer soll das ganze denn bezahlen?“ Dabei geht es weniger um die Angst, die | |
Etats bestimmter Ministerien könnten überzogen werden, sondern vielmehr um | |
die Verteilung der Pfründe, mit denen in Brasilien alle Regierungen ihre | |
wankelmütigen Koalitionspartner bei der Stange halten. | |
25 Jun 2013 | |
## AUTOREN | |
Andreas Behn | |
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