| # taz.de -- Moskaus neues Jüdisches Museum: Die Zeit war reif | |
| > Das Museum erzählt mehr als eine tränenreiche Version der Juden in | |
| > Russland. Mit Actionkino und 4-D vermittelt das Haus auch unbequeme | |
| > Erkenntnisse. | |
| Bild: Bis zu 3000 Besucher an Wochenenden, 200-300 an Werktagen: Der Zuspruch �… | |
| MOSKAU taz | Die Finsternis dauert knapp zehn Minuten. Danach sind | |
| Schöpfungsgeschichte und alttestamentarische Prüfungen im filmischen | |
| Zeitraffer erzählt. Moskaus neuem Jüdischem Museum und Zentrum für Toleranz | |
| (JM) reicht jedoch eine einfache Erzählung nicht mehr. Ein Film in 4-D | |
| simuliert die Genesis und stellt biblische Heimsuchungen leibhaftig nach: | |
| Die vierte Dimension einer dreidimensionalen Stechfliege übernimmt eine | |
| Düse unterm Kinosessel, deren Luftstrahl das Insekt gefühlsecht über die | |
| Haut krabbeln lässt. | |
| Die Sintflut spritzt mit Wasser und rüttelt am Gestühl. Unterdessen wird | |
| der Zweite Tempel zerstört und das jüdische Volk bricht endgültig in die | |
| Diaspora auf. Im Panoramakino geht wieder das Licht an und entlässt den | |
| Besucher in eine schillernde Multimedia-Show zur Geschichte der russischen | |
| Juden. Eine im europäischen Vergleich kurze Geschichte, die erst im 18. | |
| Jahrhundert nach den Teilungen Polens begann. Damals schluckte Russland mit | |
| dem westlichen Nachbarn auch die größte jüdische Volksgruppe Europas. | |
| Die Geschichte der russischen Juden wurde in Russland noch nie | |
| zusammenhängend erzählt. Lange blieb sie von Staats wegen dem Diktat | |
| politischer Konjunkturen unterworfen. Kollektive Erinnerungen hingegen | |
| machten sich an Pogromen und staatlichem Antisemitismus fest. | |
| Die „tränenreiche Version der jüdischen Geschichte“ (Salo Wittmayer Baron, | |
| jüdischer Historiker) überwog in der Erinnerung und klammerte die | |
| alltägliche Interaktion zwischen Juden und Nichtjuden aus. Diesen engen | |
| Blickwinkel zu vermeiden, ist wichtig im Konzept des Museums. | |
| Hier soll auch das Banale, Alltägliche und Lebensweltliche zu Wort kommen, | |
| nach dem Vorbild eines Romans von Marek Edelman „ Liebe im Ghetto“. Statt | |
| am Mythos jüdischer Unterlegenheit weiterzuwirken, sollen Wechselwirkung | |
| und Gemeinsames in der Geschichte beleuchtet werden. | |
| Boruch Gorin ist ein Sprecher der jüdischen Gemeinden Russlands und ein | |
| Mitbegründer des Museums. Er geht noch weiter: Eigentlich sei das JM ein | |
| Ort genuin russischer Geschichte, denn ohne den jüdischen Beitrag sei diese | |
| undenkbar, meint der Kommunikationschef des JM. Zumal die jüdische | |
| Bevölkerung mit Russland – trotz aller Tragik – enger verwoben war als | |
| jüdische Minderheiten in anderen Staaten. | |
| ## Böse und gute Engel | |
| Neben den Opfern gebe es auch Fadenzieher, böse wie gute Engel, sagt Gorin. | |
| Diesem Leitmotiv ist auch der wissenschaftliche Zugang verpflichtet: Die | |
| Ausstellung will einen Beitrag leisten zu einer bisher noch ausstehenden | |
| integrierten Geschichte der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen. Wer nach | |
| klaren Antworten sucht, findet sie in der Ausstellung nicht. Er nimmt nur | |
| Fragen mit. | |
| Darauf hatte sich die Kommission der acht verantwortlichen Historiker aus | |
| den USA, Russland, England und Israel vorab verständigt und daran auch in | |
| der sechsjährigen Vorbereitungszeit nicht mehr gerüttelt. | |
| 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus schien auch in Moskau die | |
| Zeit für eine Würdigung des russischen Judentums reif. „Die Tatsache, dass | |
| das Museum existiert, beweist die Bereitschaft des Kremls, einige dunklere | |
| Aspekte der jüdischen Erfahrungen in Russland anzuerkennen und sich darüber | |
| hinauszubewegen“, meinte der Historiker Benjamin Nathans von der University | |
| of Pennsylvania, der am Konzept mitwirkte. | |
| Seit 1990 hat der Kreml zum ersten Mal für längere Zeit darauf verzichtet, | |
| Antisemitismus als politisches Ventil zu instrumentalisieren. Präsident | |
| Wladimir Putin stiftete sogar einen Monatslohn für das JM, dessen | |
| Finanzierung vor allem die Oligarchen Wiktor Wechselberg und Roman | |
| Abramowitsch übernahmen. Bislang sicherte das die konzeptionelle | |
| Unabhängigkeit. | |
| Die Ausstellung verteilt sich auf 8.500 Quadratmeter in einem Gebäude, das | |
| der konstruktivistische Architekt Konstantin Melnikow 1927 als Busdepot | |
| entworfen hatte. 90 Prozent des Materials sind auf Bildschirmen abrufbar | |
| oder als Videoinstallationen montiert. Historische Exponate hingegen sind | |
| rar. | |
| Der Rundgang durch das JM beginnt in den Kulissen eines Schtetls im | |
| sogenannten Ansiedlungsrayon. Nur dort durften sich nach einem Erlass der | |
| Zarin Katharina der Großen 1791 Juden niederlassen. Im Schtetl schlüpft ein | |
| neugieriger Besucher in die digitalen Kluften eines Rabbis, Handwerkers | |
| oder Lehrers. Auch dem Schabbat-Abendessen einer Familie kann man | |
| beiwohnen. | |
| In einem Cafe Odessas – knapp 100 Jahre später – trifft der Besucher auf | |
| das erwachte intellektuelle Leben einer inzwischen stark jüdisch geprägten | |
| Großstadt. Pappmaché-Intellektuelle verheddern sich in der Aufbruchszeit in | |
| einem unentwirrbaren Stimmengemenge. | |
| ## Halb Davidstern, halb Roter Stern | |
| Jahre der Revolution und des Bürgerkrieges folgen, ein in weiten Teilen der | |
| russischen Öffentlichkeit umstrittenes Kapitel, das ein Stern an der Decke | |
| versinnbildlicht: halb Davidstern, halb Roter Stern. Dahinter die Frage: | |
| Warum gehörten so viele Juden zu den Wortführern der Bolschewiki? | |
| Die meisten hatten gar keine Wahl. Die Frage Rot oder Weiß stellte sich so | |
| gar nicht, weil es auf die Entscheidung Leben oder Tod hinausgelaufen wäre. | |
| Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Juden den Bolschewiki gefolgt wären. | |
| Solchen Mythen will die Ausstellung entgegenwirken. | |
| Einerseits gab es die Blüte der sowjetischen Wissenschaft, in der jüdische | |
| Akademiker überproportional vertreten waren, andererseits beschränkten | |
| Quoten den Zugang zur Universität. Erstmals um die Jahrhundertwende, später | |
| in den 1960er Jahren, als Juden den höchsten Bildungsstand unter den | |
| sowjetischen Völkern erreicht hatten. Die Ambivalenz des Staates zwang dem | |
| fast assimilierten Juden eine jüdische Identität durch Ausgrenzung auf. | |
| Höhepunkt der Ausstellung ist der „Große Vaterländische Krieg“, der in | |
| jüngster Zeit als patriotische Klammer gegen Fakten immunisiert wurde. | |
| Unbestritten war es die Rote Armee, die auf ihrem Weg nach Berlin die | |
| Insassen der KZs befreite. Dem steht indes noch eine andere Erfahrung | |
| gegenüber: die Kollaboration in den besetzten Gebieten. | |
| Die Legende der Exponate nennt es „Vorspiel des Holocausts“. Auch die halbe | |
| Million Rotarmisten und der jüdische Beitrag zur Kriegsmaschinerie, die zu | |
| keiner Zeit in den offiziellen sowjetischen oder russischen Triumphdiskurs | |
| aufgenommen wurden, werden selbstbewusst benannt. Der Tabubruch ist eine | |
| Gratwanderung. Wer wusste schon vom Verbot, des Holocaust nach dem Krieg in | |
| der Sowjetunion zu gedenken, oder dass jüdische Mahnmale in sowjetische | |
| umgewidmet wurden? | |
| ## Der Antisemitismus der Nachkriegszeit | |
| Unfassbares manifestiert sich aufs Neue: Die Welt erstarrte noch vor den | |
| Gräueln des Genozids, als in Moskau schon wieder antisemitische Umtriebe | |
| wüteten. Nach der Demontage des Eisernen Vorhangs 1991 wanderte die | |
| Mehrzahl aller Juden aus. Fast eine Million emigrierte allein nach Israel, | |
| Hunderttausende zog es in die USA oder auch nach Deutschland. | |
| Die Zeit des Um- und Aufbruchs der 1990er in Russland übergeht die | |
| Ausstellung jedoch. Wahrscheinlich sind es die noch zu große Nähe zur | |
| Gegenwart und die komplizierte politische Gemengelage. Nach der Stunde null | |
| 1991 formierte sich eine neue Wirtschaftselite, der auch viele Juden | |
| angehören. Präsident Wladimir Putin ist kein Antisemit, sein prominentester | |
| Häftling, Ex-Yukos Eigentümer Michail Chodorkowski, stammt jedoch aus einer | |
| jüdischen Familie – wie so manch anderer, der in Ungnade fiel. | |
| Seit die Ausstellung Ende letzten Jahres eröffnet wurde, kommen bis zu | |
| dreitausend Besucher an Wochenenden, an Werktagen sind es zwei-, | |
| dreihundert. Die Museumsmacher sind über den regen Zuspruch sogar ein wenig | |
| überrascht. Vor allem über die vielen jungen Leute ohne jüdischen | |
| Hintergrund, die Interesse an der gemeinsamen Geschichte zeigen. Das Museum | |
| sei von der Bevölkerung sehr gut angenommen worden, meint Baruch Gorin. | |
| Ein wenig verwundert das schon. Zwar ist Antisemitismus als fester | |
| Bestandteil russischer Politik nach dem Kommunismus verschwunden, latente | |
| Vorbehalte haben in der kollektiven Psyche indes überlebt. Daran änderte | |
| auch der massenhafte Exodus der jüdischen Bevölkerung nach dem | |
| Zusammenbruch der Sowjetunion nichts. | |
| Und davon zeugt nach wie vor die Schwemme antisemitischer Literatur in den | |
| Buchläden. Inzwischen hätten aber Moslems aus dem Nordkaukasus und | |
| zentralasiatische Gastarbeiter die klassische Rolle des jüdischen | |
| Sündenbocks übernommen, sagt Gorin. | |
| Selbst Nationalisten und Chauvinisten, von Haus aus notorische Antisemiten, | |
| besuchen die Ausstellung regelmäßig. Das dem Museum angegliederte Zentrum | |
| für Toleranz verfolgt die Diskussionen dieser Szene danach in den | |
| einschlägigen Blogs. „Manche unbequeme Erkenntnis bleibt tatsächlich | |
| hängen“, staunt Gorin. Toleranz sei jedoch nach wie vor eine knappe | |
| Ressource. | |
| Vor allem Schulklassen besuchen das Zentrum, das mit sozialpsychologischen | |
| Tests, Videos, Interviews und Filmen für mehr Akzeptanz des Andersseins | |
| wirbt. Mittlerweile wieder ein heikles Unternehmen, da der Kreml gegen | |
| alles mobilmacht, was nicht in seine Norm passen will. | |
| 17 Jul 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus-Helge Donath | |
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