| # taz.de -- Performance in Israel: Die Wirklichkeit spricht viele Sprachen | |
| > Das ehrgeizige Jerusalemer In-House Festival eröffnet in Wohn- und | |
| > Schlafzimmern, in Klöstern und in Blindenschulen Räume für Utopie. | |
| Bild: Es sind Lieder voller Schmerz und Sehnsucht die Neta Elkayam und ihre Ban… | |
| Hanan Ben Simons Arbeits- und Schlafzimmer in der Ben-Jehuda-Straße 31 ist | |
| klein. Die Mieten sind hoch in Jerusalem. Acht Leute finden Platz auf der | |
| Tagesdecke des Betts mit Leopardenmuster, auf drei Stühlen und auf dem | |
| Boden. Der Künstler sitzt im Seidenpyjama hinter seinem Keyboard in einer | |
| Ecke. | |
| Die Intimität der Situation wird noch verstärkt durch die Songs, die Ben | |
| Simon geschrieben hat. Sie handeln von der ersten Liebe und vom schwierigen | |
| Verhältnis zur Familie nach seinem Coming-Out: "When you get older, it gets | |
| rough", singt er mit hoher Stimme und verwickelt seine Zuhörer in ein | |
| Gespräch übers Älterwerden. Hanan Ben Simon ist 25, und er ist camp: | |
| Perfekt beherrscht er die Kunst des selbstironischen Sprechens über wahre | |
| Gefühle. | |
| Hanan Ben Simons Schlafzimmerkonzert war Teil des Festival BaBeit, auf | |
| Englisch In-House Festival, das Anfang Juli stattfand. In fünf Tagen wurden | |
| zwölf eigens entwickelte Produktionen gezeigt, in Wohnungen, Parks, einer | |
| Blindenschule, einem Kloster, einem Luxusappartement und im | |
| Naturkundemuseum. | |
| Das Festival gehört zur Jerusalem Season of Culture, die den ganzen Sommer | |
| umspannt und in diesem Jahr zum dritten Mal stattfindet. Sie ist Teil der | |
| Kulturoffensive von Bürgermeister Nir Barkat. Durch säkulare Kulturprojekte | |
| soll der Wegzug junger Gebildeter vermindert und der Tourismus | |
| vorangebracht werden. Deswegen würden zwar immer neue Parks angelegt, | |
| sozialpolitisch aber passiere weniger als unter Barkats orthodoxem | |
| Vorgänger, bemängeln Kritiker. | |
| ## Der Immobilienwahn | |
| Derweil greift auch in Jerusalem, einer nicht gerade reichen Stadt, der | |
| Immobilienwahn um sich. Das hat die junge Choreografin Anat Eisenberg, die | |
| einen Teil ihrer Ausbidung an der Berliner Universität der Künste genossen | |
| hat, zum Anlass genommen, ein vier Millionen Euro teures, noch nicht | |
| verkauftes Penthouse im Stadtzentrum zum Schauplatz ihres Stücks zu machen. | |
| Das Publikum bekommt den Auftrag, dem Makler Interesse vorzuspielen. Dass | |
| auch er nur ein Schauspieler ist und die Immobiliengruppe Africa Israel die | |
| Räume fürs Theater zur Verfügung gestellt hat, wird erst danach verraten. | |
| Das ist etwas enttäuschend, hatte das Spielen mit der Wirklichkeit doch | |
| Spaß gemacht. | |
| Eisenbergs These, dass das Immobiliengeschäft selbst eine Form des Theaters | |
| ist, mag stimmen. Ob sie uns dabei hilft, die Verwandlung der Innenstädte | |
| in Geldanlagen zu verstehen, ist eine andere Frage. Auch dem aus Europa | |
| kommenden Nichthandwerker ist die Qualität des in den bereits fertig | |
| gestellten Appartements verbauten Materials offenkundig. Die Story vom | |
| Wohnen in den nach eigenen Vorstellungen gestalteten vier Wänden verdeckt | |
| nur dürftig die Realität der Spekulation auf die knappe Ressource Raum. | |
| ## Zwei scharf voneinander getrennte Gesellschaften | |
| Den geteilten Raum der Stadt, in der zwei scharf voneinander abgegrenzte | |
| Gesellschaften die meiste Zeit bloß nebeneinander her leben, fassen die | |
| Macher der Jerusalem Season of Culture mit ihrem Programm in den Blick. Für | |
| sie steht der integrative Charakter der Kultursaison im Vordergrund. Das | |
| Programm ist online auf Arabisch, Englisch und Hebräisch abrufbar. Es soll | |
| nicht nur im westlichen, jüdischen, sondern auch im östlichen, arabischen | |
| Teil der Stadt wahrgenommen werden, wünscht sich der künstlerische Direktor | |
| des Festivals, Itay Mautner. | |
| Vielsprachig ist auch das Konzert von Noam Inbar und vier befreundeten | |
| Musikern im neogotischen Kirchenraum des Klosters der Schwestern von Zion. | |
| Während die Zuhörerinnen auf Matratzen liegen, lässt die Band Schlaflieder | |
| sanft ineinander übergehen. Vorgetragen werden sie auf Hebräisch, Arabisch | |
| und den, wie Inbar meint, "offiziellen jüdischen Sprachen" Russisch, | |
| Jiddisch und englischem Gibberish. | |
| ## Botschaften für den Schlaf | |
| Noam Inbar hat nichts dagegen, wenn jemand während seines Konzerts | |
| einschläft, weil im Schlaf die Botschaft des Zusammenlebens über religiöse | |
| und ethnische Grenzen besser ankomme. Tatsächlich ist leises Schnarchen zu | |
| hören, wenn die Musik gerade einmal wieder leiser geworden ist. Das letzte | |
| Lied des Konzerts stammt von der Ostjerusalemer Band Sabreen. Es ist die | |
| Vertonung eines Gedichts von Machmud Darwisch über einen Gefangenen, der | |
| mit seinem Wärter spricht: Nero sei tot, Rom gebe es immer noch. Aber eines | |
| Tages werde eine dunkle Regierung von einer besseren ersetzt. Inbar hält | |
| das Stück für eine alternative palästinensische Hymne im Geist des | |
| Humanismus. | |
| Die Jerusalemer Season of Culture hat weder Angst davor, kontroverse | |
| Stimmen zu Gehör zu bringen, noch lässt sie sich den Raum der Utopie | |
| nehmen. Auf ihrer Website der Season ist zu lesen, an ihrem Ende stünden | |
| der Weltfrieden, das friedliche Miteinander und Tanzen auf den Straßen. Das | |
| klingt nur ironisch, es ist ernst gemeint. Nur wer naiv ist, kann | |
| Möglichkeiten sehen, sagt Festivalchef Itay Mautner. | |
| Was die Vorstellungskraft zu leisten imstande ist, demonstriert Naama | |
| Schendars Theaterprojekt in einer Blindenschule im ultraorthodoxen Viertel | |
| Kirjat Mosche. Vier junge Blinde führen vier Gruppen durch die Schule. Auf | |
| einem Rasenstück im Hof, das mit einem niedrigen Zaun eingehegt ist, lässt | |
| Sarit, eine junge Frau in einem blauen Kleid, zwei Kaninchen und zwei | |
| Schildkröten frei. Den Eingang zur Rasenfläche, die jetzt zur Bühne wird, | |
| hat sie zuvor mit einer großen Vogelvoliere versperrt. Dann lässt sie in | |
| den Köpfen der Besucher eine Welt entstehen: "Es ist ein ruhiger Ort, es | |
| gibt keine Menschen hier", sagt sie auf Hebräisch. | |
| ## Sarit verwandelt sich in einen Busch | |
| Sarit beschreibt einen idyllischen Ort und verwandelt sich in Steine und | |
| Büsche, indem sie in verschiedenen Posen mit den Händen den Boden berührt. | |
| Sie werde immer wieder aufgefordert, doch einen Blindenstab zu benutzen, | |
| erzählt sie dann. Dabei könne sie Lichter und Formen schemenhaft erkennen. | |
| Zum Beweis deutet sie nach oben und sagt: "Hier ist ein Licht, hier ist | |
| eines und hier noch eins." | |
| In der Küche der Blindenschule sitzt Amend und berichtet erst auf Arabisch, | |
| dann auf Hebräisch davon, wie es eines Tages für immer dunkel wurde, gerade | |
| als er ein Bilderbuch ansah. Während er erzählt, schält Amend zügig | |
| Kartoffeln und Karotten. Dass er kochen könne, verdanke er seiner Mutter, | |
| sagt Amend. Er spielt auf seinem Oud, der arabischen Laute, ein Lied für | |
| sie. | |
| An einem anderen Ort, im Viertel Katamonim wurde früher auf Arabisch | |
| gesungen, als frisch eingewanderte jüdische Familien aus Nordafrika hier | |
| angesiedelt wurden, bis die arabische Musikkultur nur noch auf | |
| Hochzeitsfeiern ein Dasein im Schatten des Privaten führte. In ihrem Haus | |
| in Katamonim lässt das Künstlerpaar Neta Elkayam and Amit Chai Cohen die | |
| Geschichte ihrer Familien, die einst in Marokko lebten, in Gestalt | |
| jüdisch-maghrebinischer Musik wiederauferstehen. | |
| ## Marokko im Wohnzimmer | |
| In ihrem mit Zuhörern vollgepackten Wohnzimmer spielen sie Lieder, die | |
| einst in Marokko weit über die jüdische Gemeinde hinausstrahlten, etwa von | |
| der Sängerin Zohra El Fassia. Ihr Ruhm blieb in Marokko jahrelang | |
| ungebrochen, als sie schon längts nach Oisrael ausgewandert war. In ihrer | |
| neuen Heimat war sie ein Niemand, niemand spielte ihre Lieder. | |
| Es sind Lieder voller Schmerz und Sehnsucht, aber auch über das Glück und | |
| die Liebe, die Neta Elkayam und ihre Band, zu der auch ein Nachbarsjunge | |
| gehört, spielen. Vor vier Monaten erst haben sie sich zusammengefunden, | |
| aber Neta singt, als sei sie mit dieser Musik und mit dem Arabischen | |
| aufgewachsen. Die Zuhörerinnen sind beglückt, und bald beginnen einige | |
| Frauen zu tanzen. | |
| Als Neta und Amit vor einigen Monaten einen Clip mit einem bekannten Stück | |
| von Salim Halali, "Taalli", [1][auf YouTube stellten], womit ihre | |
| Geschichte begann, wurde er auch von vielen arabischen Hörerinnen | |
| begeistert aufgenommen. Musik ist anarchisch. Sie erzeugt in Rhythmus und | |
| Melodie eine Form der Gemeinschaft, die sich nicht um kollektive | |
| Erzählungen von Differenz und Volkstum schert. | |
| 11 Jul 2013 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.youtube.com/watch?v=rWxzHyNZlSE | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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