# taz.de -- Kunst in der Psychiatrie-Zelle: Die Größe des Lebens an der Wand | |
> Julius Klingebiel verbringt 36 Jahre in einer Klinikzelle in Göttingen. | |
> Gegen den Widerstand der Anstaltsleitung beginnt er, sie auszumalen – und | |
> wird ruhiger. Aber dann gibt er das Malen wieder auf. | |
Bild: Gegen die Gedankenzerfahrenheit: Elf Jahre nach seiner Einweisung begann … | |
Julius Klingebiel ist eingesperrt. Er sitzt in Zelle sieben des Göttinger | |
Verwahrhauses, weil er als geisteskranker Verbrecher gilt. Manchmal | |
konsultiert er jemanden, der unsichtbar neben ihm steht. Wie soll sich sein | |
Werk entwickeln? Was kommt als nächstes dazu? „Da muss noch was verändert | |
werden!“, gibt er der unhörbaren Stimme recht. Dann geht er an die Wände, | |
die seine Welt im Abstand von 3,95 mal 2,34 Meter begrenzen und malt | |
wieder. Julius Klingebiel tut das seit 1951 und er wird es weiter tun, bis | |
ihn 1960 die Medikamente stoppen. | |
Er bemalt jeden Quadratzentimeter, den er erreichen kann. Weiß bleiben am | |
Ende nur ein schmaler Streifen unterhalb der Decke und die Decke selbst. | |
Hirsche und Rehe sind sein Hauptmotiv. Dann gibt es dieses riesige Zahnrad | |
oder ist es ein Steuerrad? Vielleicht beides. Über der Tür schwebt Jesus, | |
rechts daneben sind Hitler, Göring, Hindenburg und Graf Zeppelin, deren | |
Oberkörper auf ein Luftschiff gepflanzt sind. Eine Figur sieht aus wie ein | |
Soldat, dem das Gesicht zerfetzt wurde. Eine andere schaut einen an, egal | |
wohin man läuft auf diesen neun Quadratmetern. | |
Es scheint ein heilloses Durcheinander zu sein. Julius Klingebiel ergänzt | |
es immer wieder oder malt ganze Partien neu. Er erschafft eine Welt | |
jenseits der Anstalt und er lässt andere daran teilhaben: Er führt Ärzte, | |
Pfleger und Studenten durch sein Zimmer. Das ist ein bisschen Freiheit: | |
Anerkennung und Gespräche, die es in der Anstalt sonst nicht gibt. Heute | |
steht die Zelle leer, die Malerei ist weitgehend erhalten geblieben. | |
## Das feste Haus | |
Im Verwahrhaus werden aber noch immer psychisch kranke Sträflinge | |
eingesperrt. Es heißt heute festes Haus und gehört zum Asklepiosklinikum in | |
Göttingen. Die Öffentlichkeit darf da nicht rein. Dennoch kann man | |
Klingebiels Malerei in Originalgröße sehen. Erhard Meyer zeigt sie. Der | |
Pfleger leitet das Krankenhausmuseum. Seine Brille trägt er nicht auf der | |
Nase, sondern ins graue Haar gesteckt. Sie wandert ein Etage tiefer, wenn | |
er sich durch alte Akten wühlt. | |
Meyer schreibt an einer Chronik der Klinik. Wenn man ihn bittet, führt er | |
einen in den ehemaligen Frauentrakt der historischen Anstaltsgebäude, der | |
liegt 400 Meter Luftlinie vom Verwahrhaus entfernt. Über siebenundsiebzig | |
Stufen aus Buntsandstein steigt er hinauf, dann öffnet er die Metalltür zum | |
ehemaligen Siecheneck. Früher wurden hier Verwirrte zum Sterben | |
untergebracht. Heute steht hier eine Installation: Plastikwände im Abstand | |
von 3,95 mal 2,34 Meter. Sie tragen Fotos von Klingebiels Zelle. In der | |
Mitte steht ein Bett aus Stahlrohren. | |
## Größe des Lebens | |
Meyer hat sich Julius Klingebiels Wände jahrelang angeschaut: „Es ist so | |
eine Vielfalt, dass ich jedes Mal, egal wie oft ich hier reingekommen bin, | |
immer mehr davon sehe.“ Er hat ein paar Münzen, einen Schlüssel und die | |
rechte Hand in der Hosentasche. Es klimpert und er hält vielleicht eine | |
Sekunde inne, dann meint er: „Da ist eigentlich die Größe des Lebens auf | |
die Wand gebracht.“ Meyers Leidenschaft ist Geschichte und so hat er viele | |
Stunden investiert, um herauszufinden, was im Nationalsozialismus in der | |
Klinik los war. Julius Klingebiels Geschichte ist Teil dieser Zeit und doch | |
mehr: Sie verbindet sie mit der Psychiatrie nach 1945. | |
Julius Klingebiel war Schlosser bei der Wehrmacht und außerdem Angehöriger | |
der SA. Er war ein gut integrierter Teil eines Systems, das sich am 2. | |
Oktober 1939 gegen ihn wendet. Vier Wochen nach dem Überfall auf Polen ist | |
er massiv überarbeitet und leidet an Schlafentzug. Er wird an diesem Tag | |
seine Freiheit verlieren. Sein Stiefsohn kommt aus dem Garten ins Haus. | |
Julius Klingebiel beginnt einen Streit und fängt schließlich an, ihn zu | |
würgen. Seiner Frau droht er, ihr das Gleiche anzutun. Er wird schließlich | |
von der Polizei abgeholt: Einen Tag verbringt er im Polizeigefängnis, dann | |
wird er in die Anstalt in Hannover-Langenhagen und schließlich nach | |
Wunstorf verlegt. Seine Diagnose steht fest: paranoide Schizophrenie. | |
## Entlassung verweigert | |
1940 setzt er sich hin und schreibt einen Brief an die Anstaltsleitung. Er | |
will endlich entlassen werden: Sein Aufenthalt sei ja ganz schön gewesen, | |
aber gefährlich, begründet er sein Anliegen. Schizophrenie gilt damals als | |
Erbkrankheit. Julius Klingebiel wird nicht entlassen. Seit 1934 gibt es das | |
„Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Mitte 1940 wird er | |
zwangssterilisiert. 1941 kommt er dann zum ersten Mal ins Göttinger | |
Verwahrhaus. | |
Warum er den Nationalsozialismus überhaupt überlebte, weiß heute niemand | |
mehr. Mindestens 200.000 psychisch Kranke und Menschen mit Behinderung | |
wurden im Rahmen der sogenannten Euthanasiemorde systematisch umgebracht. | |
Julius Klingebiel war nicht darunter. Vielleicht wurde er vom Göttinger | |
Anstaltsleiter beschützt, vielleicht wurde er aber auch schlicht vergessen, | |
jede Bürokratie macht Fehler. | |
1951 beginnt Julius Klingebiel dann plötzlich zu malen. Er schafft sich | |
langsam, Stück für Stück Freiräume. Seine ersten Zeichnungen muss er wieder | |
abwaschen. Für das Personal sei das am Anfang eine Schmiererei gewesen, | |
sagt Meyer. „Es gab eine klare Regelung, dass an diesen Wänden nichts zu | |
sein hatte. Es war verboten, die Wände zu bemalen oder zu bekleben.“ Aber: | |
„Der hatte ja aggressive Durchbrüche, der hat manchmal gewütet in seiner | |
Zelle. Und jetzt stellen Sie sich vor als Wärter, der macht plötzlich was, | |
schmiert an den Wänden herum, ist dadurch ruhig und ausgeglichen.“ | |
Irgendwann habe man ihn dann gewähren lassen, sagt Meyer. | |
Viele dieser Details aus Julius Klingebiels Leben hat der Psychiater und | |
Künstler Andreas Spengler ausgegraben. Man habe neben der Archivarbeit auch | |
noch Zeitzeugen finden und befragen können, sagt Spengler. Spengler leitete | |
ein Forschungsprojekt, dass sich drei Jahre lang mit Julius Klingebiel und | |
seinem Werk beschäftigt hat. Die Ergebnisse werden im August in dem | |
Aufsatzband „Die Klingebiel-Zelle“ bei Vandenhoeck und Ruprecht | |
veröffentlicht. | |
## Zerfahrene Gedanken | |
Dirk Hesse, der Leiter des Maßregelvollzugs in Moringen, ist neben Spengler | |
einer der Herausgeber. Er glaubt, dass Julius Klingebiel auf den Wänden | |
seine Gedanken geordnet hat. Schizophrene Menschen leiden unter anderem an | |
der sogenannten Gedankenzerfahrenheit, das heißt, dass sie einen neuen | |
Gedanken nicht mehr mit dem vorherigen in Verbindung bringen können. Dazu | |
kommt, dass Gedankengänge plötzlich enden und nicht mehr weiter gedacht | |
werden können, Psychiater nennen das Gedankenabreißen. Beides kann den | |
Betroffenen bewusst sein und ist dann nur schwer zu ertragen. | |
Hesse glaubt, dass Julius Klingebiel mit seiner Kunst „die Fäden des Lebens | |
zusammenhalten“ wollte. Es sei der Versuch, der Gedanken habhaft zu werden. | |
Weil das in seinem Kopf nicht mehr funktionierte, musste es auf der Wand | |
passieren. Trotzdem, es sei mehr als eine Gedankenskizze: „Er hat ein | |
Gesamtkunstwerk geschaffen“, sagt Hesse. | |
## Frauen im Dunkeln | |
Das glaubt auch Thomas Röske. Er leitet in Heidelberg die Sammlung | |
Prinzhorn, die sich psychiatrischer Kunst verschrieben hat. Julius | |
Klingebiel werde „eine Anerkennung erreichen, von der er selbst nicht zu | |
träumen gewagt hat“, meint Röske. Er hat das Werk erstmals kunsthistorisch | |
eingeordnet. Julius Klingebiel habe Bezüge im Raum hergestellt. So kommt | |
das Motiv eines Hirschkopfes an gegenüberliegenden Wänden vor: Die beiden | |
Köpfe spiegeln sich. Auch das Licht spielt eine große Rolle. Die Jesusfigur | |
über der Tür ist am besten beleuchtet, weil sie gegenüber dem einzigen | |
Zellenfenster liegt. Frauenfiguren hat Klingebiel in die dunkleren Ecken | |
verbannt. Und das riesige Zahnrad – oder ist es ein Steuerrad? „Ich nenne | |
es das Megawappen“, sagt Röske. Darin finden sich Anspielungen auf diverse | |
gesellschaftliche Bereiche: Technik, Handwerk, Politik. Es ist das | |
Megawappen, „weil es alles beinhaltet, was sein Denken ausgemacht hat“, | |
sagt Röske. | |
Julius Klingebiel musste seine Zelle 1963 verlassen. Er malte da schon drei | |
Jahre nicht mehr. Anfang der 1960er Jahre gaben die Ärzte ihm zum ersten | |
Mal Neuroleptika. Die Medikamente waren neu und sollen seine Schizophrenie | |
gelindert haben. Sie dämpften aber auch seine Kreativität. Julius | |
Klingebiel malte nie wieder. Als er 1965 im Alter von 61 Jahren starb, | |
hatte er 26 Jahre in der Psychiatrie verbracht – zehn davon als Künstler. | |
## Die Ausstellung „Julius Klingebiel und seine Zelle“ ist vom 14. 8. bis | |
31. 8. 2013 im Asklepios Klinikum Göttingen, Sozialzentrum, Rosdorfer Weg | |
70 zu sehen | |
14 Jul 2013 | |
## AUTOREN | |
Jakob Epler | |
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