# taz.de -- Nach dem Friedensnobelpreis für die EU: Ein verlorenes Jahr | |
> Flüchtlinge auf Hoher See stoppen und zurückschleppen: Ein Jahr nach dem | |
> Nobelpreis räumt die EU ihren Grenzschützern mehr Rechte ein. | |
Bild: Künftig entscheidet Frontex, wer Asyl beantragen kann. | |
BERLIN taz | In drei langen Reihen hatten Helfer sie aufgebaut: 290 Särge | |
aus dunklem Holz, darauf 290 rote Rosen mit langem Stiel, darin die 290 | |
Opfer des Schiffsunglücks vom 3. Oktober, zur Schau gestellt in einer | |
Wellblechhalle am Rande des Hafens von Lampedusa. | |
„Ich werde diesen Anblick für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen“, | |
sagte die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström später. „Das war das Bild | |
einer Union, die wir nicht wollen.“ | |
Gemeinsam mit Kommissionspräsident José Barroso war Malmström kurz nach der | |
Katastrophe auf die Mittelmeerinsel gereist. Obwohl in den letzten Jahren | |
Tausende Menschen auf ähnliche Weise im Mittelmeer gestorben waren, hatte | |
dieses Unglück ganz Europa aufgeschreckt. | |
Die EU stand unter Zugzwang. Stunden nach dem Fototermin vor den Särgen | |
kündigte Malmström die Einsetzung einer Task Force an. Die aus Vertretern | |
der EU-Mitgliedstaaten und der EU-Grenzschutzbehörde Frontex bestehende | |
Eingreiftruppe sollte Sofortmaßnahmen vorschlagen, um künftige Katastrophen | |
zu verhindern. | |
## Mehr Geld für Frontex | |
Knapp ein Jahr nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an die EU – | |
unter anderem für ihren Einsatz für die Menschenrechte – stellte Malmström | |
am vergangenen Donnerstag die Empfehlungen der „Post-Lampedusa Task Force“ | |
vor. | |
Das 85 Millionen Euro umfassende Frontex-Budget wird um 30 Millionen Euro | |
aufgestockt, um Italien bei der Grenzüberwachung zu unterstützen. Dabei | |
hatte gerade Italien in der Vergangenheit immer wieder Flüchtlingsboote | |
untergehen lassen, obwohl es über deren Position genau informiert war. | |
Länder wie Bulgarien bekommen 20 Millionen Euro mehr, um ihre | |
„Aufnahmekapazitäten zu verbessern“. Das bedeutet im Fall der | |
südeuropäischen Länder oft: Internierungslager für Flüchtlinge. | |
Schließlich gab Malmström bekannt, die Verhandlungen mit Aserbaidschan und | |
Tunesien zu einer „Mobilitätspartnerschaft“ beendet zu haben. | |
Damit schließt sich entlang der EU-Grenzen eine Kette von Nachbarstaaten, | |
die fast alle auf die eine oder andere Weise in das System zur Abwehr von | |
Migranten integriert sind: Gegen Geldzahlungen – und selten auch | |
Erleichterungen bei der Visavergabe – arbeiten diese Länder mit Frontex | |
zusammen. Sie schließen die Transitrouten Richtung Europa oder nehmen | |
abgeschobene Flüchtlinge zurück. So erspart sich die EU die teure | |
Rückführung in die Heimatländer. Was dann mit den Menschen passiert, | |
interessiert Europa nicht mehr. | |
Stattdessen werden die Befugnisse von Frontex erweitert: Am Montag hat das | |
EU-Parlament über einen Vorschlag der Innenkommissarin abgestimmt, die | |
Überwachung der Seeaußengrenzen neu zu regeln. | |
## Hilfe in Seenot wird zur Pflicht | |
Frontex soll künftig auch auf Hoher See, außerhalb der europäischen | |
Territorialgewässer, Flüchtlingsboote stoppen, durchsuchen und sogar | |
zurückschleppen dürfen. Gegen den Widerstand von Ländern wie Italien sollen | |
die Grenzschützer allerdings in Zukunft verpflichtet sein, grundsätzlich | |
Hilfe in Seenot zu leisten. | |
Dafür dürfen die Grenzschützer Flüchtlinge auf dem Meer zur Umkehr zwingen | |
– ohne dass sie zuvor einen Asylantrag stellen können. Praktiziert wurde | |
das bereits, künftig wird dieses Vorgehen vom EU-Recht gedeckt sein. | |
Das heißt dann: Frontex entscheidet, wer in Zukunft noch in Europa Asyl | |
beantragen kann. Die vorgesehene „Einzelfallprüfung“ dürfen die | |
Grenzschützer direkt an Bord vornehmen. Rückschiebungen in Folterstaaten | |
oder solche ohne eigenes Asylsystem sind dabei verboten. | |
Ob Staaten wie Libyen, das Migranten entsetzlich behandelt, als | |
„Folterstaat“ gelten werden, ist fraglich. Das Land wurde jedenfalls als | |
erster nordafrikanischer Staat in das neue Grenzkontrollsystem Eurosur | |
integriert. | |
## Trotz Empfehlungen hat sich nichts verändert | |
„Das Jahr seit der Nobelpreisverleihung ist ein verlorenes Jahr“, sagt die | |
niederländische Grünen-Parlamentarierin Tineke Strik. „Wir sehen noch immer | |
dabei zu, wie Menschen sterben.“ | |
Die Professorin für Migrationsrecht ist Vizevorsitzende im Komitee für | |
Migration des Europäischen Rates. In dessen Auftrag hat sie untersucht, | |
warum im März 2011 die Nato und die EU zwei Wochen lang dabei zugesehen | |
hatten, wie 61 subsaharische Flüchtlinge 15 Tage auf dem streng überwachten | |
Mittelmeer trieben. Am Ende waren 50 von ihnen tot. „Niemand hat ihnen | |
geholfen,“ sagt Strik. | |
Sie gab eine ganze Reihe von Empfehlungen aus. „Aber bis heute hat sich | |
nichts geändert.“ Länder wie Griechenland, Malta und Italien trügen durch | |
das Verteilungssystem für Flüchtlinge als Außengrenzen-Staaten noch immer | |
die Hauptlast. | |
„Wenn es dann um Seenotrettung geht, schieben sie die Verantwortung | |
gegenseitig hin und her. Das tun sie auch deshalb, weil sie wollen, dass | |
die Nord-Länder mehr Verantwortung übernehmen. Aber bei denen gibt es | |
absolut keine Bereitschaft, etwas zu ändern.“ | |
9 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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