# taz.de -- Flüchtlingsrettung auf dem Mittelmeer: Die Angst vor dem Asylantrag | |
> Die Grenzschutzagentur Frontex soll Flüchtlingsschiffen früher zu Hilfe | |
> kommen. Wie dringend das erforderlich ist, belegt das Protokoll eines | |
> Untergangs. | |
Bild: Späte Hilfe: Überlebende verlassen das italienische Marineschiff „Lib… | |
BRÜSSEL taz | In dieser Woche hat das Europäische Parlament über die | |
Neuregelung der Seeaußengrenzen beraten. Dabei geht es unter anderem um die | |
Frage, ob Einheiten der Grenzschutzagentur Frontex verbindlich verpflichtet | |
werden sollen, in Seenot Geratenen Hilfe zu leisten. | |
Grundsätzlich müssen zwar alle Schiffsführer und staatlichen Stellen in | |
Europa Nothilfe leisten. Umstritten ist aber die Frage des Zeitpunkts. Die | |
Kommission und Teile des Parlaments wollen eine verbindliche Verpflichtung | |
für Frontex, nicht erst bei akuter Seenot eingreifen zu müssen. | |
Die südeuropäischen Länder, vor allem Italien, blockieren dies. Sie | |
fordern, das Frontex Booten, die auf dem Meer treiben, nicht zwingend zu | |
Hilfe kommen muss. Sie wollen die Schiffbrüchigen nicht an Land bringen | |
müssen, weil diese dort einen Asylantrag stellen könnten. Über die | |
Verordnung wird am 12. Dezember abgestimmt. | |
Jetzt wurde bekannt, dass die italienische Marine vor wenigen Wochen | |
[1][ein Schiff mit über 400 Syrern sinken ließ], obwohl ein Kriegsschiff in | |
der Nähe war. Nach Absetzen eines Notrufs hätte die Marine mehrere Stunden | |
Zeit gehabt, an den Unglücksort zu fahren und die Schiffbrüchigen | |
aufzunehmen. Doch weil formal Malta für das Gebiet zuständig ist, | |
unternahmen die Italiener zunächst nichts. Die Malteser erreichten den | |
Unglücksort erst, als das Schiff gesunken und vermutlich über 200 Menschen | |
ertrunken waren. | |
## Aussage von Überlebenden | |
Der italienische Journalist Fabrizio Gatti und das Monitoringprojekt „Watch | |
the Med“ haben die Ereignisse anhand der Aussagen von Überlebenden und der | |
Auswertung von Marinedaten rekonstruiert. Ein Protokoll: | |
11. Oktober, 1 Uhr morgens: Ein Schiff mit syrischen Flüchtlingen verlässt | |
den Hafen von Zuwarah, Libyen. Passagiere geben die Zahl der Insassen | |
später mit 360 bis 500 an. Ihr Ziel ist Lampedusa. | |
3 Uhr morgens: Ein mit sieben Milizionären besetztes und unter der Flagge | |
des Amazigh-Berberstammes fahrendes Boot versucht, die Flüchtlinge | |
aufzuhalten. Der Hintergrund ist unklar, möglich sind Streitigkeiten | |
zwischen Schlepperbanden. Als die Flüchtlinge sich weigern anzuhalten, | |
schießen die Berber zunächst in die Luft, später auf das Boot. Der Rumpf | |
wird beschädigt, vier Insassen verletzt. Die Flüchtlinge fahren weiter, die | |
Berber drehen ab. | |
10 Uhr: Immer mehr Wasser dringt in den Rumpf des Schiffes ein. Es ist | |
absehbar, dass die Maschinen bald ausfallen. | |
11 Uhr: Das Schiff ist weitgehend manövrierunfähig, es liegt 113 km vor | |
Lampedusa und 218 Kilometer von Malta entfernt, allerdings in der | |
maltesischen Such- und Rettungszone. Auf Bitten des Kapitäns ruft der | |
syrische Arzt Mohanad Jammo mit einem Satellitentelefon, das ihnen die | |
Schlepper mitgegeben haben, mehrfach die italienische Rettungsleitstelle | |
MRCC in Rom an. Eine Italienerin habe „Okay, okay!“ geantwortet, berichtet | |
Jammo. Dieser Anruf wird von der italienischen Marine bestritten. | |
12.26 Uhr: Jammo ruft erneut an. Wiederum wird ihm „okay!“ geantwortet – | |
und aufgelegt. | |
12.39 Uhr: Bei einem dritten Anruf zwischen 12.39 und 12.56 Uhr nimmt die | |
MRCC-Einsatzzentrale die GPS-Koordinaten auf. Sie bestätigt später, | |
verstanden zu haben, dass das Schiff zu sinken drohe und wie viele Menschen | |
an Bord seien. Der Syrer bekommt die Antwort, sie sollten sich an die | |
maltesischen Behörden wenden, da Malta für die Überwachung jenes Seegebiets | |
zuständig sei. Ein italienischer Beamter diktiert ihm die maltesische | |
Notrufnummer und legt auf. Das italienische Marineschiff „Libra“ liegt zu | |
diesem Zeitpunkt etwa 27 Seemeilen vom Unglücksort entfernt, ca. 1,5 | |
Stunden Fahrtzeit. Die Rettungsleitstelle bestätigt später den Eingang der | |
Anrufe ab 12.26 Uhr. | |
13 Uhr: Der Kommandant Felicio Angrisano der MRCC übergibt den Notruf an | |
die maltesische Armee, obwohl diese doppelt so lang bis zur Unglücksstelle | |
braucht. Er erklärt später: „Die Abfolge der Geschehnisse entspricht den | |
Kriterien, die das internationale Vorgehen vorsieht, hier im Speziellen die | |
Konvention von Hamburg, die besagt, dass jeder Staat in dem ihm | |
zugewiesenen Gebiet die Verantwortung der Rettungsoperationen trägt.“ | |
13.34 Uhr: Die italienische Rettungsleitstelle setzt einen internationalen | |
Hilferuf ab. Alle Schiffe in der Region werden auf das Unglück hingewiesen, | |
über die Koordinaten informiert und um Hilfe gebeten. Mehrere Frachtschiffe | |
fahren, darunter auch eines mit dem Namen „Stadt Bremerhaven“, nahe am | |
Unglücksort vorbei, helfen aber nicht. Noch immer gilt in Italien das | |
Bossi-Fini-Gesetz, nach dem Kapitäne, die Papierlose aufnehmen und nach | |
Italien bringen, wegen Schlepperei angeklagt werden können. Die „Libra“ | |
wird nicht in Bewegung gesetzt. Würde sie jetzt starten, wäre sie um 15 Uhr | |
an der Unglücksstelle. | |
13 bis 15 Uhr: Das Boot läuft weiter voll mit Wasser. Mohanad Jammo ruft | |
per Satellitentelefon mehrfach die Rettungsleitstelle der maltesischen | |
Armee an. | |
16 Uhr: Ein Flugzeug der maltesischen Luftwaffe erreicht den Unglücksort | |
und kreist dort. Die Pumpen im Schiffsrumpf fallen aus. Kurz darauf | |
informiert die maltesische Armee die italienische Küstenwache über das | |
Unglück und bittet Italien offiziell um Hilfe. | |
17.07 Uhr: Das Flüchtlingsboot beginnt zu sinken. | |
17.14 Uhr: Die Kommandantin der „Libra“, Kapitänleutnant Catia Pellegrino, | |
erhält den Befehl, an den Unglücksort zu fahren. Die „Libra“ ist zu diesem | |
Zeitpunkt 10 Seemeilen entfernt. | |
17.20 Uhr: Das maltesische Flugzeug wirft Rettungswesten ab. Ein von der | |
ITS „Libra“ gestarteter Hubschrauber kommt kurz danach hinzu. | |
17.49 Uhr: Die Rettungsboote CP 301 und CP 302 sowie zwei Boote der | |
Zollfahndung, die in Lampedusa im Hafen liegen, werden nach der Bitte | |
Maltas in Bewegung gesetzt. | |
17.51 Uhr: Der Patrouillenboot P61 der Maltesen erreicht den Unglücksort. | |
ca. 18.00 Uhr: Die „Libra“ erreicht den Unglücksort. | |
ca. 20.30 Uhr: Die Rettungsboote CP 301 und CP 302 aus Lampedusa erreichen | |
den Unglücksort. Hätten sie sich sofort nach dem ersten Notruf in Bewegung | |
gesetzt, wären sie bis 16 Uhr an der Unglücksstelle gewesen. | |
Die maltesischen Rettungskräfte nehmen insgesamt 147, die italienischen 65 | |
Überlebende an Bord. 212 Menschen werden gerettet, 26 Leichen können | |
gezählt werden. Zwischen 140 und 290 Menschen sind ertrunken. | |
29 Nov 2013 | |
## LINKS | |
[1] http://espresso.repubblica.it/attualita/2013/10/21/news/lampedusa-la-strage… | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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