# taz.de -- SPD-Mitgliedervotum: Ich sage „Nein“! | |
> Igitt, schwarz-rote Konsenssoße: Unser Autor hat sich in die SPD | |
> eingeschlichen und versucht als Parteimitglied, die Große Koalition zu | |
> verhindern (Teil 1). | |
Bild: Letzte Regionalkonferenz vor der Abstimmung und immer noch scheußlich: A… | |
Auf der Postkarte steht „MITGLIEDERVOTUM“, an ihrem linken Rand glitzert | |
ein silberner Sicherheitsstreifen. Frage: „Soll die Sozialdemokratische | |
Partei (SPD) den mit der Christlich Demokratischen Union (CDU) und der | |
Christlich-Sozialen Union (CSU) ausgehandelten Koalitionsvertrag vom | |
November 2013 abschließen?“ | |
Nein, soll sie nicht. | |
Ich bin extra in die SPD eingetreten, um ihr das zu sagen. 7,50 Euro | |
Monatsbeitrag schienen mir dafür nicht zu viel. | |
Jahrelang haben wir uns in Ruhe gelassen, die SPD und ich. Im Ladenlokal | |
schräg unter meiner Wohnung war bis vor Kurzem ihr Ortsverein. Manchmal | |
flogen nachts Farbbeutel gegen den Rollladen, und einmal kam Andrea Nahles | |
raus, als ich gerade auf dem Balkon stand. Und jetzt ist die Abteilung drei | |
Straßen weiter gezogen, das Ladenlokal wird entkernt, man hämmert und | |
bohrt. Die SPD geht mir auf den Keks, akustisch und politisch. | |
Ich will diesen riesigen Machtteppich nicht, der jetzt kommt, den alles | |
erstickenden Mehltau, die schwarz-rote Konsenssoße. Weil ich das Gefühl | |
habe, verarscht zu werden, weil für den Mindestlohn die Ausländermaut | |
kommt, weil sie nicht nur die Mieten bremst, sondern auch die Energiewende, | |
weil die Flüchtlingspolitik so bleibt und die Homopolitik auch, weil sie | |
Europa in Technokratie ersäuft und die Spähgeschichte aussitzt. | |
## Fast aufregend | |
Anfang Oktober ist noch alles offen, fast aufregend: Keine FDP mehr, die | |
Lager in Bewegung, man sondiert. Mit einem Freund wette ich um ein Essen. | |
Er tippt auf die GroKo, ich auf Schwarz-Grün. Drei Wochen später haben sich | |
die Grünen in die Büsche geschlagen, Hannelore Kraft und Alexander Dobrindt | |
schäkern auf dem Balkon, Thomas Oppermann höhnt in Richtung Grüne: „25,7 | |
Prozent sind immer noch erkennbar mehr als 8,4 Prozent.“ In mir reifen Ekel | |
und Zorn. | |
Und die Idee, Sigmar Gabriel beim Wort zu nehmen. Wer jetzt eintritt, darf | |
mitentscheiden, hat er gesagt. Und siehe da, die SPD, die sonst jeden Monat | |
mit einem Minus abschließt, hat am 31. Oktober 473.038 Mitglieder, 600 mehr | |
als im August. | |
Ich finde drei Mitstreiter. Vier Stimmen gegen die GroKo. Eine davon gehört | |
einem Amerikaner. Man muss kein Deutscher sein, um SPD-Mitglied zu werden. | |
An der Bundestagswahl durfte er nicht teilnehmen – am Mitgliederentscheid | |
schon. Dass er für sein bisschen Mitbestimmung auch noch zahlen muss, | |
darauf stoßen wir an. | |
Mein Wettgegner sagt: „Das war aber nicht ausgemacht, dass du den Ausgang | |
der Wette manipulierst.“ Aber er kann ja auch eintreten und mit Ja stimmen. | |
Ich bekomme eine Mail: „Willkommen bei der SPD – und willkommen beim Du.“ | |
Hallo Sigmar, Andrea, Peer. Hallo Hannelore, Frank-Walter, Manuela. Eine | |
Woche später folgt ein ebenso freundlicher Brief – mit einem Haken: Ich | |
kann „an Wahlen oder Abstimmungen zu Sachthemen erst teilnehmen, wenn Deine | |
Aufnahme in unsere Partei beschlossen wurde“. Und das kann dauern. „Da | |
unsere Vorstände alle ehrenamtlich arbeiten, finden diese Sitzungen in der | |
Regel nur ein- oder zweimal monatlich statt.“ Meinen Mitgliedsbeitrag zieht | |
die SPD aber schon mal ein. | |
## Teil des Systems | |
Über Umwege, genauer gesagt über einen Kreisgeschäftsführer in Wuppertal, | |
erfahre ich: Ich bin „im System“ und stimmberechtigt. Zum ersten Mal bin | |
ich froh, dass die SPD von Datenschutz keine Ahnung hat und dass jeder | |
Kreisgeschäftsführer meine kompletten Daten aufrufen kann. | |
Damit das Votum gilt, müssen 20 Prozent der Mitglieder abstimmen. Die | |
Mehrheit läge dann bei knapp 48.000 Stimmen. In Städten gerechnet, ist das | |
einmal Elmshorn. Bei der Bundestagswahl haben gut 44 Millionen abgestimmt. | |
Meine Stimme ist also 100- bis 500-mal so viel wert wie bei der | |
Bundestagswahl. Nicht schlecht für 7,50 Euro. | |
Wenige Tage bevor der Koalitionsvertrag vorliegt, treffen sich die vier | |
Neusozen auf einer Party. „Ihr seid viel zu harmoniesüchtig in der | |
deutschen Politik“, sagt der französische Barkeeper. – „Deshalb machen w… | |
ja jetzt auch Revolution“, entgegne ich. Ich bin betrunken. | |
Nüchtern betrachtet, glaube ich nicht an ein Nein der Basis. Deren | |
Widerspenstigkeit wird exakt in dem Moment enden, da der Vertrag in den | |
Briefkasten plumpst. | |
27. November, fünf Uhr morgens. Eilmeldungen: Einigung auf Große Koalition. | |
Die SPD-Fraktion stimmt dem Vertrag zu. Ohne Gegenstimme. Jetzt gehen die | |
Stimmkarten raus. Wer Minister und Ministerin wird, erfahren wir erst, wenn | |
das Votum durch ist. Die Partei scheint zu fürchten, dass wir Nein sagen, | |
wenn wir wüssten, wer was wird. | |
## Termin mit dem Ortsverein | |
Etwa 30 SPD-Mitglieder sitzen auf deutlich weniger Quadratmetern, | |
Neonröhren sperren den Novemberabend aus, kahle Wände, alle Fenster zu. Ein | |
Genosse trinkt Bier, eine Genossin strickt. Die jüngeren wischen auf ihren | |
Smartphones. Mein Ortsverein berät über den „Koavertrag“. Der Vorsitzende | |
zählt auf, was ihm daran nicht passt. So ziemlich alles. | |
„Aber was passiert, wenn wir Nein sagen?“, fragt er und gibt auch gleich | |
die Antwort: „Dann gibt es Neuwahlen. Wollt ihr, dass die FDP zurückkommt?“ | |
Jetzt klingt er wie Sigmar Gabriel. | |
Er lasse sich nicht drohen, teilt ein Genosse mit, sein Nein liege bereits | |
im Willy-Brandt-Haus. „Wie kann man so gegen den Vertrag sein und trotzdem | |
mit Ja stimmen?“, schimpft die strickende Genossin in kräftigem Bayerisch. | |
„Trotzdem“ ist das Wort des Abends, die meisten hier sind für die GroKo. | |
„Besser jetzt was verbessern, als mit reinem Herzen durch die Stadt laufen, | |
weil man Nein gesagt hat“, findet ein junger Genosse. | |
Dann bespricht der Ortsverein wieder Ortsvereinsdinge: Wer nimmt bei der | |
Weihnachtsfeier das vegetarische Menü, wer hilft, die alten Wahlplakate in | |
den Keller zu räumen? „Am 14. kann ich nicht“, ruft jemand. „Ich muss da | |
leider die Jastimmen auszählen.“ Auch ich habe mich freiwillig zur | |
Auszählung gemeldet. | |
Im „heute-journal“ sagt Sigmar Gabriel zu Marietta Slomka: „Lassen Sie uns | |
diesen Quatsch hier beenden.“ Horst Seehofer ruft beim ZDF an und beschwert | |
sich. So läuft’s in der schwarz-roten Republik, da interveniert die CSU für | |
die SPD. | |
## Letzter Showdown | |
Letzter Showdown vor der Abstimmung: eine Regionalkonferenz in Berlin mit | |
Stargast Manuela Schwesig. Etwa 400 Genossen drängeln sich im Saal des | |
Willy-Brandt-Hauses. Die Stühle reichen längst nicht, man lehnt an | |
Stehtischen und Wänden. Der Berliner Parteichef Jan Stöß schreitet vor der | |
scheußlichen lila-roten SPD-Stellwand das Podium ab, die grob geschnitzte | |
Willy-Statue überragt ihn. „Ich hab gehört, das ist verfassungswidrig, dass | |
wir uns hier treffen“, frotzelt er. Stöß schickt die Medien vor die Tür, | |
„wir würden das gern unter uns klären“. | |
Manuela Schwesig ergreift das Wort. „Drei Minuten!“, maulen Zuhörer. Man | |
solle sich „nicht gleich ineinander verbeißen“, bittet Schwesig. Am | |
Stehtisch echauffiert sich ein grau meliertes Ehepaar aus dem Rheinland: | |
„Die Berliner SPD ist echt scheiße“, sagt der Mann laut. Hinter ihm tigert | |
ein Genosse mit einem Weißweinglas auf und ab, er bleibt abrupt stehen. Die | |
beiden fangen sofort Streit an, auf der Bühne redet Manuela Schwesig | |
deutlich länger als drei Minuten. | |
Stöß eröffnet die Debatte. Das Mikrofon ist quotiert, Genossinnen und | |
Genossen wechseln sich ab. Auch Manuela Schwesig macht die gleiche Rechnung | |
auf: Nein gleich Neuwahl. Das regt viele auf im Saal. Sie kämpft sich durch | |
Details, nuschelt die Zahlen weg, sie sagt „Mjohn“ und „Mjahrn“. Sie ne… | |
es „eine Horrorvorstellung“, einer Krankenpflegerin sagen zu müssen, dass | |
es wieder nichts wird mit dem Mindestlohn. Ich frage mich: Darf ich | |
Millionen Leuten den Mindestlohn versagen, weil ich ein akademisches | |
Demokratieproblem sehe? Bin ich lebensfremd? | |
Schwesig wird laut: Eine Gefahr für die Demokratie sei vielleicht die NPD – | |
die Große Koalition sicher nicht. Der Rheinländer applaudiert dem | |
Weißweingenossen demonstrativ ins Gesicht. | |
Am nächsten Tag kommt der Stimmzettel. Eine Weile lasse ich ihn liegen, der | |
Silberstreif funkelt mich an. Dann kreuze ich „Nein“ an. Dick und fett, | |
denn: „Ungültig sind Stimmzettel, die den Willen nicht zweifelsfrei | |
erkennen lassen.“ | |
Daran soll es nicht scheitern. | |
Wie es weitergeht, erfahren Sie am Sonntag auf taz.de. | |
14 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Erik Dietrich | |
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