# taz.de -- taz-Autor wollte GroKo verhindern: Gabriels feuchte Augen | |
> Er schlich sich in die SPD ein und stimmte dagegen. So wollte ein | |
> taz-Autor die Große Koalition zum Scheitern bringen – vergeblich. Ein | |
> Erlebnisbericht. | |
Bild: Gescheitert an den ParteigenossInnen. | |
BERLIN taz | Es war ein schlechtes Omen, dass ich die | |
Hochleistungsschlitzmaschinen nicht gesehen habe. Die sagenumwobenen | |
Dinger, die 20.000 Umschläge in der Stunde öffnen. Als meine Schicht | |
begann, waren sie weggeschlossen. Ich hatte sie nur gehört, früh am Morgen | |
im Radio. Sie klangen wie Kreissägen. | |
An diesem Samstag scheitert mein Plan, die Große Koalition zu verhindern. | |
Ich habe mich freiwillig gemeldet für die Auszählung des | |
SPD-Mitgliedervotums. Um kurz nach neun Uhr betrete ich eine gleißend | |
erleuchtete Backsteinhalle in Berlin-Kreuzberg, in der früher mal | |
Eisenbahnwaggons und Postsäcke lagerten. Menschen stapeln Kartons, werfen | |
Zettel in Kisten, sie sitzen an Dutzenden Tischen oder schieben Rollwagen, | |
sie gestikulieren und rufen Kommandos. Viele tragen rote T-Shirts und | |
Anoraks aus dem Wahlkampf auf. „Hessen-SPD“, „Jusos“, „Parteibasis“… | |
wimmelt und rauscht, ich bin in einem Ameisenstaat gelandet. | |
Ein pinkfarbenes Bändchen mit der Aufschrift „Sozialdemokratische Partei | |
Deutschlands“ prangt an meinem Handgelenk. Mein Handy liegt im Schließfach, | |
keiner darf die Halle verlassen, bevor das Ergebnis bekannt gegeben wird – | |
auch nicht die Genossen, die schon seit ein Uhr morgens hier sind. | |
Ich musste eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben, „sämtliche im | |
Zusammenhang mit dem Auszählprozess erlangte Unterlagen und Informationen | |
streng vertraulich zu behandeln und nicht an Dritte (auch nicht via | |
Twitter, Facebook oder anderweitig) weiterzugeben“. Die Stimmzettel hatte | |
die SPD an einem unbekannten Ort in Leipzig versteckt und in einem | |
verplombten Zwölftonner samt Anhänger von der Polizei nach Berlin | |
eskortieren lassen. | |
Das war am Freitagabend, als wir Freiwilligen im Willy-Brandt-Haus zur | |
Einweisung antraten. Manche hatten Rollkoffer dabei. Sie waren aus ganz | |
Deutschland angereist, aufgeteilt nach einem Länderschlüssel. Anfahrt und | |
Hotel hat die SPD bezahlt. Das Licht war gedimmt, Schnattern erfüllte den | |
Saal, die Genossen standen bei Brezeln und Apfelsaft beisammen, | |
fotografierten sich gegenseitig unter der Willy-Statue. | |
## Der Franke kringelt sich vor Lachen | |
Barbara Hendricks, die künftige Umweltministerin, sprach auf der Bühne | |
mütterliche Sätze: „Die Halle ist geheizt, aber bringt euch einen Pulli | |
mit.“ Ein storchbeiniger Schlaks aus Franken saß neben mir, er kringelte | |
sich bei jedem zweiten Satz vor Lachen oder klatschte ohrenbetäubend in die | |
Hände. Nichts konnte die Stimmung trüben – bis gegen 22 Uhr die letzte | |
Powerpoint-Folie aufleuchtete, der „Einsatzplan“. Da erfuhr die Hälfte der | |
Genossen: Sie müssen nachts um halb fünf ran. | |
Ein Stöhnen ging durch den Saal. Eine ältere Frau schlug die Hand vor den | |
Mund, ein Mann mit Vollbart schimpfte immer wieder: „Na, herzlichen | |
Glückwunsch! Nicht zu glauben! Herzlichen Glückwunsch!“ Ich hingegen konnte | |
ausschlafen, der Schlaks aus Franken auch. Jetzt sitzt er in der Halle an | |
einem Zähltisch, neben sich eine rote Postkiste. Darin liegt ein Haufen | |
Stimmzettel mit dem gleichen Votum, entweder Ja, Nein oder Ungültig. Erst- | |
und Zweitzähler zählen immer je zehn Zettel, dann streicht der Zweitzähler | |
ein Kästchen auf dem Zählprotokoll ab und wirft die Zettel in einen Karton. | |
Wenn alle Zettel drinliegen, tausche ich den Karton gegen einen leeren aus | |
und stelle den Zählern eine neue Postkiste mit Stimmzetteln hin. | |
Die vollen Kartons schiebe ich auf einem Rollwagen ans Ende der Halle zur | |
MPZK, zur Mandatsprüfungs- und Zählkommission. Mehr als einmal remple ich | |
Genossen aus der Nachtschicht an. Sie stolpern wie Zombies durch die Gänge, | |
weil sie nichts mehr zu tun haben, aber nicht rausdürfen. Nur einmal, gegen | |
elf, setzen sie sich noch mal an die Tische, weil dann die Presse | |
fotografiert und alles emsig aussehen soll. Eine Putzfrau saugt das Podium. | |
Am Nachbartisch diskutieren eine Zählerin und ein MPZK-Mitglied, ob ein | |
Stimmzettel gültig ist, wenn neben dem Nein-Kreuz „Ich trete aus!“ steht. | |
Die Stimme gilt. Auf eine Postkiste mit Nein-Stimmen kommen zwei, drei, | |
vier mit Ja. Das sind die Stimmen der Unbegeisterten, mit denen ich vor der | |
Auszählung so oft geredet habe. Das Ja von Björn, 30, der „privat am | |
liebsten mit Nein gestimmt hätte“, es aber doch nicht tat, weil der | |
Mindestlohn sein „Gewerkschafterherz höherschlagen“ lässt. | |
## Andrea Nahles stromert und busselt | |
Das Ja von Dietmar, 57, dem Ortsteilbürgermeister in Thüringen, der von | |
„kleinen Schritten“ und einem „Zweckbündnis“ sprach. Den ganzen Vormit… | |
stromert Andrea Nahles in einem nachtblauen Blazer durch die Halle, | |
schüttelt Hände, fällt um Hälse, busselt, herzt, strahlt. Gegen 12 steigt | |
sie aufs Podium, schwenkt eine rote Kiste und verkündet: „Das ist die | |
letzte!“ | |
Der Ameisenstaat arbeitet viel schneller als geplant, Applaus brandet auf. | |
„Und wie es der Zufall will, ist es eine Ja-Kiste.“ Ich lächle gequält und | |
bringe den Rollwagen weg. Jetzt applaudieren sich die Genossen von Etappe | |
zu Etappe. Die letzte Kiste, der letzte Zähltisch, der letzte Karton. Die | |
SPD findet sich gerade richtig gut. Wie sie das alles gemeinsam hinbekommen | |
haben! Dieser Kraftakt! Dieses Gemeinschaftsgefühl! | |
Jubelnd ziehen die Sozialdemokraten in die GroKo, die vor drei Monaten noch | |
des Teufels war. Aber um die GroKo geht es hier ja eh nur noch am Rande. | |
Auf das Ergebnis müssen wir noch über eine Stunde warten. „Mir reicht’s | |
jetzt auch, wenn ich es aus den Nachrichten erfahre“, sagt eine weißhaarige | |
Genossin, die schon seit halb fünf hier ist. Immerhin gibt es jetzt | |
Currywurst, stundenlang gab es nur ein paar Weißbrotdreiecke mit Möhren und | |
orange Käse. | |
In der Halle bauen Techniker Mikrofone, Scheinwerfer und Kameras auf. Wir | |
Helfer sollen uns in einem Halbkreis hinter die Parteiführung stellen und | |
uns einen Button anheften: „Mitgliedervotum – ich war dabei!“ „Sig-mar, | |
Sig-mar!“, skandieren die Helfer, als die Parteiführung in die Halle | |
einzieht. Mitten im Spalier steht der Schlaks und klatscht mit den Händen | |
überm Kopf. Ich stehe etwas abseits und versuche, mich dem Klatschdruck zu | |
entziehen. | |
## Dietrichs Kopf-Bingo | |
Sigmar Gabriel dankt und dankt, die Genossen klatschen und klatschen. Im | |
Kopf spiele ich Bingo. „Willy Brandt“ – Bingo. „150 Jahre“ – Bingo. | |
„Innerparteiliche Demokratie“ – Bingo. „Stolz, Sozialdemokrat zu sein�… | |
Bingo. Gabriel hatte feuchte Augen, lese ich später. | |
Barbara Hendricks trägt das Ergebnis vor: 369.680 abgegebene Stimmen, „mit | |
Ja haben gestimmt …“ Ich rechne: Wenn die Zahl mit „einhundert“ beginnt, | |
könnte es noch – „zweihundertsechsundfünfzigtausend …“ Ich schließe … | |
Augen, mein Kinn sackt auf die Brust. 76 Prozent der gültigen Stimmen für | |
Ja. Unter den Helfern scheinen es eher 100 Prozent zu sein, es dröhnt und | |
jubelt um mich herum, sie ballen die Fäuste, geben sich High Five. Ich sehe | |
eine einzige Genossin, die nicht klatscht. | |
Ich bin sehr enttäuscht. Dass ich die GroKo verhindern könnte, war immer | |
unwahrscheinlich. Es ist Gabriels Sieg, unbestritten. Andere Parteien | |
werden an Mitgliederbefragungen nicht mehr vorbeikommen, auch das erkenne | |
ich an. Aber dass am Ende so wenige Nein gesagt haben, deprimiert mich. | |
Andrea Nahles wendet sich noch einmal an die, die nur zum Neinsagen | |
eingetreten sind. Die sollten doch in der Partei bleiben, „der nächste | |
Mitgliederentscheid kommt bestimmt“. Tut mir leid, Andrea, wir sind | |
demnächst wieder per Sie. | |
In der Kantine dampfen Braten und Kartoffelgratin, ein DJ legt Abba auf, | |
aber viele Helfer eilen zu den Bahnhöfen, sie wollen ihre Züge nach Kiel, | |
Aschaffenburg und Mannheim erwischen. Von der Parteispitze ist keiner mehr | |
da. | |
Unser Autor heißt eigentlich nicht Erik Dietrich. Wir haben seinen Namen | |
geändert, damit er bei der Auszählung dabei sein kann. | |
15 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Erik Dietrich | |
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