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# taz.de -- Syrische Flüchtlinge in Deutschland: Ein Antrag unter Tausenden
> 50.000 Syrer leben in Deutschland. Die wenigsten von ihnen verdienen
> genug, um Angehörige auf eigene Kosten in Sicherheit bringen zu können.
Bild: Syrische Flüchtlinge im Durchgangslager Friedland (Niedersachsen)
BERLIN taz | Rund 30.000 Euro netto im Jahr. Für einen Arzt ist das nicht
viel. Aber der syrische Arzt Ahmed Aziz* hat keine volle Stelle, und es ist
genug zum Leben. Doch um seine Familie aus dem Kriegsgebiet zu retten,
reicht es nicht aus.
Aziz lebt in einer norddeutschen Großstadt, schon lange. Seine drei
Schwestern, ihre beiden Töchter und seine 97-jährige Mutter aber leben in
der Altstadt von Damaskus. „Eine ruhige Gegend“, sagt der Arzt. Der Krieg
habe das Viertel zum Glück bislang verschont. Trotzdem hat er Angst.
Mitte 2012 ging Aziz das erste Mal zur Ausländerbehörde. Er legte seinen
Steuerbescheid vor und füllte eine „Selbstverpflichtungserklärung“ aus. D…
Formular ist wie wie eine Bürgschaft: Der Unterzeichner verpflichtet sich,
Unterhalt seiner Verwandten, Wohnung, Krankenversicherung, mögliche
Abschiebekosten zu übernehmen. Dem deutschen Staat sollten keine Kosten
entstehen, wenn er seiner Schwester und deren Tochter ein Visum ausstellt,
die Flucht ermöglicht.
Doch die Ausländerbehörde lehnte ab. Drei von vier Kindern von Aziz gehen
zur Schule oder zur Uni. Sein Einkommen sei zu gering, um noch jemanden zu
unterhalten, befand das Amt. Die Schwester blieb in Damaskus, der Krieg
ging weiter.
Im September 2013 entdeckte Aziz dann einen Artikel in der Zeitung: Zwei
Wochen zuvor hatte das Innenministerium seines Bundeslandes eine neue
Anordnung erlassen. Der Minister erklärte, er wolle einen „weiteren Beitrag
zur Hilfestellung für syrische Flüchtlinge leisten“, die hier Verwandte
haben. Er senkte die Anforderungen für den Unterhalt. Für eine fünfköpfige
Familie, wie die von Aziz, die eine Person einladen will, fiel das
„Bonitätsminimum“ auf etwa 2.500 Euro – so viel, wie Aziz verdient. Er s…
seine Chance. Am 16. September – einem Montag, das weiß er noch genau –
füllte er erneut die „Selbstverpflichtungserklärung“ aus. Diesmal
beantragte er ein Visum für die Mutter, deren Zustand sich verschlechtert
hatte.
## Zwei Menschen, doppelte Kosten
Auf einmal ging alles ganz schnell. Noch am selben Tag bekam er die
Antwort. Die Ausländerbehörde stimmte der Einreise zu, Aziz’ Mutter durfte
in der deutschen Botschaft in Beirut ein Visum beantragen. Doch es war zu
spät. Die alte Frau war zu gebrechlich für eine so weite Reise. Aziz, seine
Geschwister, die Mutter telefonierten tagelang. Am Ende war klar: Sie blieb
in Damaskus. Am nächsten Donnerstag ging Aziz wieder zur Ausländerbehörde.
„Ich wollte eine Genehmigung für meine Schwester mit ihrer Tochter.“ Die
Behörde lehnte ab: Zwei Menschen, doppelte Kosten – dafür reichte Aziz’
Gehalt noch immer nicht aus.
Am 7. Dezember trafen sich die Innenminister in Osnabrück. Zehn Monate war
es da her, dass Deutschland zum ersten Mal beschlossen hatte, 5.000 Syrer
aus den völlig überfüllten Lagern im Libanon zu retten. Die Caritas und der
UNHCR wählten „besonders Schutzbedürftige“ aus: Kinder mit Eltern, Kranke,
gefährdete Frauen, religiöse Minderheiten. Doch längst nicht alle kamen zum
Zuge, und von den Ausgewählten sind bis heute erst 3.800 eingereist. Die
Prüfung möglicher „Sicherheitsbedenken“ und die Beschaffung von
Passpapieren ist langwierig.
In Osnabrück beschlossen die Innenminister, weitere 5.000 Syrer sollten
kommen dürfen. „Wir müssen angesichts dieser humanitären Katastrophe
Solidarität beweisen“, sagte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz,
der Niedersachse Boris Pistorius.
## Eine neue Chance
Die Minister formulierten dafür klare Kriterien: 1.200 Plätze sollten an
die „besonders schutzbedürftige“ Menschen gehen, die UNHCR und Caritas für
das letzte Kontingent im Libanon ausgesucht hatten, die aber dann von
Deutschland nicht genommen wurden. Einige hundert Plätze sollten für
Menschen reserviert sein, die mit Blick auf den „Wiederaufbau Syriens nach
Konfliktende“ in Deutschland weiterqualifiziert werden sollen.
Die übrigen rund 3.000 Plätze waren für Menschen „mit Bezügen nach
Deutschland“: Familienangehörige, deutsche Sprachkenntnisse, Voraufenthalte
– und Verwandten, die sich an den Aufnahmekosten beteiligen. Wie die
Schwestern von Aziz. Er sah eine neue Chance.
Bis zum 6. Februar lief die Frist. Eine Woche vorher ging Aziz zum vierten
Mal zur Ausländerbehörde. Er füllte die Formulare für seine beiden
Schwestern und ihre zwei Töchter aus, gab deren Mailadresse im Libanon an.
Dieses Mal brauchte er keine Selbstverpflichtungserklärung. Trotzdem wollte
die Behörde wissen, wo seine Verwandten leben, ihre Lage, ihre
Qualifikation – und ob er sich an den Lebenshaltungskosten für seine
Verwandten beteiligen könne. „1.000 Euro im Monat für die eine, 500 für die
andere, hab ich reingeschrieben“, sagt Aziz. Er setzte den Betrag so hoch,
wie er konnte. „Man musste da nichts reinschreiben, aber es gibt viele
Bewerber, und je mehr man einsetzt, desto größer ist die Chance“, sagt er.
## Wieder warten
Die Nachfrage war enorm. Etwa 50.000 Syrer leben in Deutschland, doch die
wenigsten verdienen genug, um auf eigene Kosten Verwandte zu retten. Für
sie war das Aufnahmeprogramm des Bundes die einzige Chance, die Familie
nicht im Krieg sich selbst zu überlassen. Auf die 3.000 Plätze, die auf
alle Bundesländer aufgeteilt werden, kommt ein Vielfaches an Anträgen. Auf
die 340 Plätze in Niedersachsen haben sich 1.900 Menschen beworben, 6-mal
so viele.
Wie entscheidet man über Schicksale? „Die Ausländerbehörden der Länder
prüfen, ob die Kriterien erfüllt sind“, sagt Christoph Sander vom
Nürnberger Bundesamt für Flucht und Migration (BAMF), es sei „eine grobe
Vorauswahl“. Dann übermitteln sie die „Dossiers“ an das BAMF. „Es wird
geklärt, ob es tatsächlich Verwandtschaftsbeziehungen gibt, Voraufenthalte,
Deutschkenntnisse, der Grad der Schutzbedürftigkeit, die Qualifikationen
für den Wiederaufbau“, sagt Sander. „Es müssen nicht alle drei Kriterien
erfüllt sein. Eines kann reichen.“ Doch dann stehen noch immer mehr auf der
Liste, als Deutschland aufzunehmen bereit ist. Was dann? „Ein richtiges
Punktesystem gibt es nicht“, sagt Sander. „Am Ende zählt die Reihenfolge
der Antragstellung.“
Am Tag nach seinem letzten Besuch bekam Aziz einen Anruf von der
Sachbearbeiterin. Die Unterlagen seien vollständig. Nun müsse er warten.
*Name geändert
22 Mar 2014
## AUTOREN
Christian Jakob
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