Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zwischenbilanz zum NSU-Prozess: Wegdrehen und schweigen
> Am Dienstag verhandelt das Oberlandesgericht München zum 100. Mal die
> NSU-Mordserie. Ein Jahrhundertprozess – ohne absehbares Ende.
Bild: Der NSU-Prozess ist schon Geschichte: Hier im Theaterstück in Karlsruhe.
MÜNCHEN/BERLIN taz | Um 9.30 Uhr wird Richter Manfred Götzl am Dienstag im
Saal A 101 des Münchner Oberlandesgerichts wieder in die Reihen grüßen.
Dann wird er Reiner B. aufrufen, einen Thüringer Verfassungsschützer. Es
wird der 100. Prozesstag sein, an dem Götzl über das größte deutsche
Verbrechen der jüngsten Zeit verhandeln wird: die NSU-Mordserie.
Von 2000 bis 2006 soll der „Nationalsozialistische Untergrund“ neun
Kleinunternehmer mit Migrationshintergrund und eine Polizeibeamtin
erschossen, zudem mindestens zwei Bombenanschläge mit vielen Verletzten und
14 Banküberfälle verübt haben. Zwei NSU-Mitglieder, Uwe Böhnhardt und Uwe
Mundlos, begingen später mutmaßlich Selbstmord.
Wie agierte die Hauptangeklagte Beate Zschäpe bislang?
Sie schwieg. Ganz in Schwarz betrat Zschäpe am vergangenen Donnerstag den
Saal. Wie immer drehte sie sich von den Kameras weg, plauderte mit ihren
Verteidigern. Kaum begann die Verhandlung, sagte sie nichts mehr.
Keine Aussage hat sie bisher äußerlich sichtbar bewegt – weder die Worte
der ihr nahestehenden Mutter Uwe Böhnhardts noch die Bitten der
Opferangehörigen wie Ismail Yozgat noch die Autopsieberichte „ihrer Uwes“.
Auch vor den Richtern sagt sie nicht aus.
Wird es dabei bleiben?
Zschäpes Verteidiger wollen sich nicht zu ihrer weiteren Strategie äußern.
Anfangs attackierten ihre Anwälte das Gericht noch mit
Befangenheitsanträgen, inzwischen verfolgen sie den Prozess eher passiv.
Sie hoffen wohl, dass es reicht, Indizien und Zeugenaussagen infrage zu
stellen, um so eine Mittäterschaft Zschäpes an den NSU-Verbrechen nicht
nachweisbar zu machen.
In welchen Punkten wird Zschäpe bisher belastet?
Die Anklage pokerte hoch: Sie wirft Zschäpe Mittäterschaft an den zehn
Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und 14 Banküberfällen des NSU vor. Im
Prozess wurden bisher 265 Zeugen und 27 Sachverständige gehört – entlastet
hat Zschäpe fast keiner.
Eine Ausnahme: Der Mitangeklagte Carsten S. berichtete über ein Gespräch
mit „den Uwes“ über einen Anschlag. Als Zschäpe dazukam, hätten beide ihn
zum Schweigen gemahnt: Sie solle nichts mitbekommen.
Mehrere andere Zeugen – die Mutter von Uwe Böhnhardt, Zschäpes Cousin
Stefan A., der frühere Weggefährte André Kapke oder der Fluchthelfer
Max-Florian B. – nannten Zschäpe dagegen „gleichberechtigt“ im Trio. Der
Fluchthelfer B. hatte dem BKA auch berichtet, dass die 39-Jährige „von den
Aktionen wusste und voll dahinterstand“.
Zudem sagte der Mitbeschuldigte Holger G., Zschäpe sei bei einer
Waffenübergabe anwesend gewesen. Marcus Köhler, Sprecher der
Bundesanwaltschaft, erklärte: „Die Beweisaufnahme spiegelt unsere
Ermittlungsergebnisse wider.“
Ist ein Strafmaß für Zschäpe im Verfahren schon deutlich geworden?
Allein für die Brandstiftung, laut Anklage ein Tötungsversuch, droht
Zschäpe eine mehrjährige Strafe. Ein Sachverständiger bestätigte, dass
durch den Brand eine gebrechliche 89-jährige Nachbarin in Lebensgefahr
geriet. Auch hätten Passanten durch umherfliegende Trümmerteile getötet
werden können. Wird Zschäpe zudem als Mittäterin der Terrorgruppe
verurteilt, droht ihr lebenslange Haft, bei „besonderer Schwere der Schuld“
auch eine nachträgliche Sicherheitsverwahrung.
Was liegt gegen die anderen Angeklagten vor?
Vier Männer sitzen als NSU-Helfer mit auf der Anklagebank. Besonders Ralf
Wohlleben, ein Ex-NPDler, wurde im Prozess belastet: Carsten S., auch
Mitangeklagter, sagte, Wohlleben habe ihm 2.500 DM gegeben und aufgetragen,
dafür in einem Jenaer Szeneladen die spätere NSU-Mordwaffe zu kaufen – eine
Ceska.
Carsten S. brachte die Waffe schließlich zu Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt –
und ist deshalb wegen Beihilfe zu den Morden angeklagt. Laut einem
BKA-Beamten bestellten S. und Wohlleben zudem gleich auch einen
Schalldämpfer, was als Indiz dafür gilt, dass beide von Mordplänen der
Untergetauchten wussten. Gab sich Wohlleben im Prozess ungerührt, zeigte
sich S. betroffen. Bei seinem Geständnis weinte er, Zeugenauftritte
verfolgt er teils aufgewühlt.
Abgeklärt trat Holger G. auf. Der dritte angeklagte NSU-Helfer räumte ein,
dem Trio eine Waffe in ihr Versteck in Zwickau gebracht zu haben – dann
schwieg er. Bis 2011 half G. den dreien, überließ ihnen Krankenkassenkarte,
Führerschein und Reisepässe auf seinen Namen.
Inzwischen hat er das Zeugenschutzprogramm verlassen. Warum, sagt er nicht.
Möglicher Grund: G. traf sich trotz BKA-Aufsicht mehrmals über Stunden mit
einem Prozesszeugen und einer Zeugin zu einem „rein freundschaftlichen“
Plausch.
Der letzte Angeklagte, André E., verweigerte bislang jede Aussage. Im
Prozess gab er sich lässig, beantragte, im Juli nicht mehr teilnehmen zu
müssen, da er mit den Morden nichts zu tun habe. Allerdings war es E., den
Zschäpe am Tag des Auffliegens anrief und um Hilfe bat.
Er und seine Frau waren über Jahre die engsten Freunde der Untergetauchten
und besuchten sie regelmäßig. Er verhinderte ein früheres Auffliegen, als
er Zschäpe bei der Polizei als seine Frau vorstellte. Auch fanden sich auf
E.s Computer zwei alte Versionen des NSU-Bekennervideos.
Wie hat sich Richter Manfred Götzl geschlagen?
Keine Frage: Er sieht sich als Herr des Verfahrens, versuchte den Prozess
voranzutreiben. Immer wieder wies Götzl Zeugen und Anwälte zurecht, rigoros
unterbrach er vermeintlich Widersprüchliches. Gegenüber Angehörigen der
NSU-Opfer gab er sich mal verständnisvoll, dann wieder forderte er, „auf
den Punkt zu kommen“.
Gab es bisher Überraschungen?
Kurz nach Prozessbeginn erinnerte sich Carsten S., dass „die Uwes“ ihm
erzählt haben, sie hätten „in Nürnberg in einem Laden eine Taschenlampe
hingestellt“. Damit machte S. einen bis dahin noch nicht dem NSU
zugeordneten Anschlag publik. Bei der Tat erlitt 1999 ein türkischer
Gaststättenmitarbeiter Verbrennungen, nachdem er eine Taschenlampe
anschaltete, in der eine Rohrbombe steckte.
Wie blicken die Opfer nach München?
Enttäuscht. Angehörige der Opfer nehmen nur noch selten am Prozess teil –
auch wegen der großen Belastung. Sie werden durch mehr als 50
Nebenklage-Anwälte vertreten – die sich zunehmend mit der
Bundesanwaltschaft anlegen.
Knapp 30 Rechtsbeistände warfen der Bundesanwaltschaft zuletzt vor, eine
„kritische Befragung von Nazizeugen zu verhindern“. Der Aufklärung von
Strukturen, die „zu Entstehung und Fortbestand des NSU“ beitrugen, werde
„aktiv“ entgegengetreten, so die Anwälte.
Die Bundesanwaltschaft warnte dagegen, den Prozess „nicht ausufern zu
lassen“. Gamze Kubasik, deren Vater 2006 in Dortmund erschossen wurde,
zeigte sich in Interviews von dem Prozessverlauf betroffen: Sie habe sich
Gewissheit über den Mord an ihrem Vater erhofft. Doch „die Heimlichtuerei“
gehe weiter.
Was sagt die rechte Szene?
In der Szene wird die Mordserie als Verschwörung abgetan. Die NPD bemüht
sich, den NSU als Geheimdienstphantom erscheinen zu lassen, und will
vergessen machen, dass Wohlleben mal ihr Landesvize in Thüringen war.
Im Münchner Prozess sei „alles mit allen Beteiligten inszeniert“, heißt es
in einem Neonazi-Onlineforum. Vor allem für Wohlleben, neben Zschäpe der
einzige inhaftierte Angeklagte, erwärmt sich die Szene: Als der im März
Geburtstag hatte, kam eine Gruppe Neonazis mit „Solidarität für
Wolle“-Shirts ins Gericht. Auch organisierte die Szene einen Soli-Sampler,
dessen Erlös die Prozesskosten „Wolles“ mitfinanzieren soll.
Und wann gibt’s ein Urteil?
Noch bis zum 18. Dezember sind Prozesstage terminiert. Ein Urteil ist noch
lange nicht in Sicht. So wurden die Bombenanschläge kaum und Banküberfälle
des NSU bisher noch nicht verhandelt. „Derzeit“, sagt Gerichtssprecherin
Titz, „gibt es keinerlei – sei es auch nur grobe – Erwartungen hinsichtli…
des Prozessendes“.
1 Apr 2014
## AUTOREN
Konrad Litschko
Andreas Speit
## TAGS
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Rechtsextremismus
Terror
Prozess
Justiz
Schwerpunkt Rechter Terror
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Beate Zschäpe
Schwerpunkt Rechter Terror
Schwerpunkt Neonazis
Bundesanwaltschaft
Schwerpunkt Rechter Terror
Corelli
Theater
Nazis
Schwerpunkt AfD
NSU-Prozess
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nebenkläger im NSU-Prozess: V-Leute sollen gehört werden
Mehr als 600 Zeugen benannte die Bundesanwaltschaft im NSU-Prozess.
Darunter nur drei V-Leute. Die Nebenkläger wollen nun eine Reihe Spitzel
laden.
NSU-Prozess in München unterbrochen: Zschäpe zwickt's
Die Aufarbeitung der NSU-Mordserie verzögert sich. Beate Zschäpe fühlt sich
angeblich „ausgebrannt“, offiziell ist von Übelkeit und Magenschmerzen die
Rede.
NSU-Prozess in München: Zschäpe meldet sich krank
Noch ist kein Verhandlungstag ausgefallen – bis jetzt. Zschäpes Ärztin
attestiert Kreislaufprobleme. Doch ihre Symptome könnten auch andere Gründe
haben.
NSU-Prozess in München: Enrico T. erinnert sich nicht
Der mutmaßliche Beschaffer der Tatwaffe der NSU-Terroristen, Enrico T.,
fühlt sich zu Unrecht verdächtigt.
Kommentar Generalbundesanwalt: Zupacken gegen Nazis
Der Generalbundesanwalt soll in Sachen Staatsschutz schneller ermitteln.
Skepsis bleibt aber, ob er die NSU-Mordserie als solche erkannt hätte.
Reaktion auf NSU-Mordserie: Mehr Macht für den Bundesanwalt
Nie mehr jahrelange Justiz-Kleinstaaterei wie beim NSU: Der
Generalbundesanwalt soll solche Fälle schneller an sich ziehen.
Ex-Verfassungsschützer im NSU-Prozess: „Ich glaube Dir überhaupt nicht“
Der Vater des ermordeten Halit Yozgat bezichtigte Andreas T. offen der
Lüge. Was sah dieser im Internetcafé der türkischen Familie? Erneut geriet
T. in Erklärungsnot.
Das Amt nannte ihn Corelli: Tod eines deutschen Topspitzels
Er galt als ein Bestverdiener unter den V-Leuten. Nun starb Thomas R. –
angeblich an unerkannter Diabetes. Sein Verhältnis zum NSU bleibt
ungeklärt.
Stück zum NSU im Residenztheater: Hatten Sie eine Lebensversicherung?
Christine Umpfenbach ergreift mit ihrem Stück „Urteile“ am Münchner
Residenztheater Partei für die Opfer des NSU-Terrors. Ein Abend
eindringlicher Emotionen.
Nazi-Treffen in Wittenberge: Aufmarsch abgebrochen
Mit Sitzblockaden erzwangen hunderte Menschen das vorzeitige Ende eines
Nazi-Aufmarschs in Wittenberge. Mehrere Demonstranten wurden festgenommen.
Studie zu Strategien gegen Rechts: „Inhaltliche Auseinandersetzung“
Um Rechtspopulisten keine Bühne zu bieten, muss man sich mit deren
Argumenten auseinandersetzen, sagt Extremismusexperte und Studienautor
Ulrich Overdieck.
NSU-Prozess in München: Die Frage nach dem Tatwerkzeug
Woher stammt die Schusswaffe, mit der Böhnhardt und Mundlos neun Menschen
töteten? Ein Zeuge sollte zur Klärung beitragen, zog aber zurück.
NSU-Prozess in München: Justitia geht schlafen
Seit fast einem Jahr läuft der NSU-Prozess. Der Aufklärungswille des
Gerichtes scheint zu erlahmen. Die Nebenkläger sind empört.
Zeugin im NSU-Prozess: Kameradschaftshilfe fürs Trio
Im NSU-Prozess sagt Mandy S. aus, die dem Trio um Beate Zschäpe einst
Unterschlupf gewährte. Selbst aus der Szene stammend, half die Zeugin auch
bei Behördengängen.
NSU-Mord an Mehmet Turgut in Rostock: Gedenken demontieren
Zehn Jahre nach dem NSU-Mord an Mehmet Turgut wird in Rostock ein Denkmal
eingeweiht. Praktisch: Eine mögliche Entsorgung ist schon eingeplant.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.