# taz.de -- NSU-Prozess in München: Justitia geht schlafen | |
> Seit fast einem Jahr läuft der NSU-Prozess. Der Aufklärungswille des | |
> Gerichtes scheint zu erlahmen. Die Nebenkläger sind empört. | |
Bild: Die Demonstranten sind auf jeden Fall engagierter als die Justiz. | |
BERLIN taz | Um ins Münchner Oberlandesgericht zu kommen, ist Ismail Yozgat | |
500 Kilometer gereist. Er hat seine Frau und die drei Töchtern mitgenommen | |
und sich mit ihnen in den Saal A101 gesetzt, nach hinten. Yozgat trägt | |
einen grauen Anzug, in der Hand hält er einen Zettel, seine Erklärung. | |
Es ist Dienstag, der 11. März, und im Münchner NSU-Prozess soll es wieder | |
um Halit gehen, seinen Sohn, der nur 21 Jahre alt geworden ist. Am 6. April | |
2006 wurde er in Yozgats Internetcafé in Kassel erschossen. Die Ankläger | |
gehen davon aus, dass es die Rechtsterroristen der NSU waren: Uwe Böhnhardt | |
und Uwe Mundlos. Eine Verfassungsschützerin aus Hessen ist geladen und ein | |
Polizist aus Kassel. | |
Nach der Befragung des Beamten erteilt Richter Manfred Götzl Yozgat das | |
Wort. „Ich begrüße das Gericht und die Familienangehörigen der Märtyrer�… | |
liest der 58 Jahre alte Yozgat auf Türkisch, ein Dolmetscher übersetzt. | |
Götzl unterbricht ihn. Beziehe sich die Erklärung denn auf den gehörten | |
Zeugen, wie es die Strafprozessordnung verlange? | |
„So viel Zeit muss sein“, wirft Yozgats Anwalt Thomas Bliwier ein. Yozgat | |
könne nicht zu jedem Prozesstag anreisen. Würde man jetzt nicht | |
diskutieren, wäre die Erklärung längst verlesen. Götzl läuft rot an: „Es | |
ist ungehörig, wenn Sie mir so kommen!“ Ismail Yozgats Miene bleibt | |
unbewegt, schwere Furchen liegen in seinem Gesicht. Er faltet seinen Zettel | |
wieder zusammen. | |
Es ist nicht das erste Mal, dass es laut wird im Saal A101. Seit | |
vergangenem Mai wird dort gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche | |
NSU-Helfer wegen zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und 15 | |
Banküberfällen verhandelt. Immer öfter geraten neuerdings die Opfer-Anwälte | |
mit dem Gericht oder den Bundesanwälten aneinander. | |
## NSU-Opfer erscheinen als Verfahrensballast | |
Vor drei Wochen veröffentlichten 33 der gut 50 Nebenklage-Anwälte eine | |
Erklärung. Die Aufklärung werde im NSU-Prozess „insbesondere vom | |
Generalbundesanwalt längst als lästig hintenangestellt“. NSU-Opfer würden | |
„zu scheinbar unnötigem Verfahrensballast degradiert“. | |
Eine vernichtende Kritik in einem Prozess, der gestartet war, das größte | |
Staatsversagen der jüngsten Zeit zu verhandeln. Generalbundesanwalt Range | |
sprach von „unserem 11. September“. Die Kanzlerin lud zu einem Gedenkakt | |
und versprach den Angehörigen, „alles zu tun, um die Morde aufzuklären und | |
die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken“. | |
Auch Ismail Yozgat trat damals ans Pult. Er wünsche sich, sagte er, „dass | |
die Mörder und ihre Helfer gefangen werden. Mein Vertrauen in die deutsche | |
Justiz war immer vorhanden. Von nun an, so hoffe ich, wird es vollkommen | |
sein.“ | |
Im Münchner Prozess sehen die Nebenkläger den Aufklärungswillen dagegen | |
erlahmt. „Wir müssen uns inzwischen jeden neuen Aktenfetzen, jedes Papier | |
erstreiten“, beklagt Sebastian Scharmer, Vertreter von Gamze Kubasik. Ihr | |
Vater, der Kioskbesitzer Mehmet Kubasik, wurde zwei Tage vor dem Mord an | |
Halit Yozgat in Dortmund erschossen. | |
Scharmer, ein Mann mit blondem Zopf und Kanzlei in Berlin, kritisiert vor | |
allem die Ankläger. „Die Bundesanwaltschaft arbeitet mit Scheuklappen, um | |
den Prozess möglichst schnell durchzukriegen.“ So blieben zentrale Fragen | |
offen: Gab es weitere NSU-Helfer? Was wusste der Verfassungsschutz | |
wirklich? | |
## Der Verfassungsschutz steht mehr als zweifelhaft da | |
Immer wieder geht es auch um einen Mann, der am Mittwoch auf der Zeugenbank | |
sitzt: Andreas T., groß, Halbglatze. Der Verfassungsschützer war 2006 im | |
Kasseler Internetcafé, als Halit Yozgat erschossen wurde. Von der Tat habe | |
er nichts mitbekommen, behauptet T. bis heute. Die Nebenklage hält das für | |
unglaubwürdig – die Bundesanwaltschaft für nicht widerlegbar. Er könne sich | |
„an die genauen Umstände nicht mehr erinnern“, sagt T. auch am Mittwoch. | |
Es ist nicht die erste Vernehmung von Andreas T. Für die Nebenkläger ist er | |
ein Gesicht des Behördenversagens, für das Gericht ein Nebenschauplatz. | |
Seine Akten sind teilweise für das Verfahren gesperrt. Sie tragen laut | |
Gericht nichts zur Aufklärung bei und dürfen nur in der Bundesanwaltschaft | |
in Karlsruhe gelesen, Kopien nur in Ausnahmefällen gemacht werden. „Das ist | |
Arbeit im Ausnahmezustand“, klagt Nebenkläger Scharmer. | |
Die Bundesanwaltschaft weist die Kritik zurück. „Wir sind von Anfang an | |
allen Ermittlungsansätzen akribisch nachgegangen“, sagt ein Sprecher. Mehr | |
als 1.000 Zeugen habe man vernommen, rund 1.400 Hinweise überprüft. Das | |
Gericht müsse sich auf die angeklagten Taten und Beschuldigten fokussieren. | |
Geht es nur um die Schuldfrage? Oder auch um den Nachweis von | |
Ermittlungsfehlern? 93 Tage wurde bisher verhandelt, mehr als 100 Zeugen | |
gehört. Bis Ende des Jahres ist der Prozess terminiert, er wird wohl länger | |
dauern: Zeugen verweigerten die Aussage, Befragungen zogen sich hin. Und | |
Zschäpe schweigt bis heute. | |
## Empathie liegt dem Richter fern | |
Viel hängt jetzt an Richter Götzl. Penibel verweist der auf die | |
Strafprozessordnung. Empathie liegt ihm fern, für alle Seiten. Götzl | |
entscheide jetzt, sagt Nebenkläger-Anwalt Scharmer, ob die Aufklärung | |
weiter Raum erhalte. „Oder ob die Sache hier noch eskaliert.“ | |
Am Donnerstag lässt der Richter Ismail Yozgat doch noch seine Erklärung | |
vortragen. Der berichtet von den falschen Verdächtigungen der Ermittler. | |
Und von seinem Enkel, Halit, der kürzlich an Krebs verstarb. Bei allem | |
Verständnis, das tue hier nichts zur Sache, unterbricht Zschäpes | |
Verteidiger Wolfgang Heer. | |
Götzl weist ihn zurück: Yozgat solle reden. Der sagt, er habe Vertrauen zum | |
Gericht. Und einen Wunsch: Die Straße, in der sein Sohn geboren und | |
ermordet wurde, solle Halitstraße heißen. | |
15 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
Darius Ossami | |
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