# taz.de -- Punks in Rosenheim: Rechte Jagdszenen in Oberbayern | |
> Vor einem Jahr wurde in Rosenheim eine Punk-WG von Nazis überfallen. Dort | |
> hat sich im Umgang mit rechter Gewalt wenig verändert. | |
Bild: Lockt in Rosenheim rechte Schläger auf den Plan: bunter Iro | |
ROSENHEIM taz | Als der Waffenladen um neun Uhr öffnete, lauerten die Punks | |
schon vor dem Eingang. Sie mussten aufrüsten, nach dem Überfall trauten sie | |
den Nazis alles zu. Um vier Uhr in der Früh hatten die Faschos ihre | |
Wohnungstür eingetreten und Sid einen Holzknüppel über den Schädel gezogen. | |
Bis um sieben Uhr saßen die Punks dann auf dem Polizeirevier, um ihre | |
Zeugenaussagen abzugeben. Als sie rausdurften, stürmten sie zum | |
Geldautomaten, plünderten ihre Konten und warfen ihre Ersparnisse zusammen: | |
ein paar hundert Euro, die sie jetzt in ein Waffenarsenal investierten. | |
Das Geld reichte für eine Schreckschusspistole samt Munition, drei | |
Baseballschläger, ein Pfefferspray, einen Tonfa-Schlagstock, einen | |
Elektroschocker und vier Stichschutzwesten. Den Abend zuvor hatten die | |
Punks in der WG verbracht: Sid, Didi und Maxi; dazu vier Freunde, die zu | |
Besuch waren. Als es an der Tür polterte, waren sie noch wach und zockten | |
gerade auf der Playstation. Trine II, ein Actionspiel mit Zauberern und | |
Rittern. Bis die Tür aufflog und die Punks nicht mehr auf Ritter im | |
Fernseher starrten, sondern auf vier Nazis in ihrer Wohnung. | |
Eine Szene wie in einer schlechten „Tatort“-Folge. Die Angreifer trugen | |
Springerstiefel, Bomberjacken und Sturmhauben und attackierten ihre Opfer | |
mit Holzknüppeln. „Linkes Zeckenpack“, hörte Sid einen von ihnen noch | |
brüllen, dann krachte ein Knüppel auf seinen Schädel. | |
Ein Jahr ist seit dem Angriff am 6. April und der Tour zum Waffenladen | |
vergangen. „Wir haben danach ganz schön Paranoia geschoben“, sagt Sid | |
heute. Dabei hatten sich die Punks die Gefahr nicht eingebildet. Nachdem | |
die Täter nicht in U-Haft mussten, stand in der nächsten Nacht schon wieder | |
eine Horde Vermummter vor der Tür. Ein Teil der Angreifer war wenig später | |
auch beteiligt, als vier Neonazis zwei türkischstämmige Jugendliche ins | |
Krankenhaus prügelten. | |
## Bunte Haare provozieren immer noch | |
Ein Baseballschläger im Flur kann da nicht schaden. Noch dazu in einer | |
Stadt wie Rosenheim, in der über gewaltbereite Neonazis ungern geredet | |
wird. Selbst nach dem NSU-Terror nicht. Und in der ein bunter Iro knapp | |
vier Jahrzehnte nach den Sex Pistols noch immer provoziert. | |
Er nennt sich Sid – nicht wie Sid Vicious, sondern wie das Faultier aus | |
„Ice Age“ –, trägt grüne Haare, zwei Ringe in der Lippe und einen in der | |
Nase. Es ist Samstagabend und aus seinen Computerboxen scheppert | |
Polkahontas, eine Volksmusikkapelle, die Punk-Klassiker ins Bayerische | |
übersetzt: „Deutschland muss sterm, damit mir leben kenna.“ Sids Zimmer ist | |
mal wieder voll. | |
Die WG liegt zentral in der Innenstadt, und wenn in Rosenheim nichts los | |
ist, treffen sich die Punks eben hier. So wie heute. In der Inntalhalle | |
steigt zwar das Starkbierfest. Aber die Punks finden das Bierfest scheiße. | |
Und wer zum Bierfest geht, findet die Punks wahrscheinlich genauso scheiße. | |
So funktionierte Punk ja mal: alles Andere so offensichtlich wie möglich | |
ablehnen, um im Gegenzug von allen Anderen abgelehnt zu werden. | |
Ein Prinzip, das im Jahr 2014 nur noch an wenigen Orten so richtig aufgeht. | |
In der Großstadt regt sich über bunte Haare schließlich niemand mehr auf. | |
Alles Gewöhnungssache. Im Dorf ist die Sache auch nicht einfach. Sid ist in | |
einem Kaff mit 200 Einwohnern aufgewachsen. Für seine ersten bunten Haare | |
kassierte er von der Dorfjugend zwar Prügel, trotzdem saß er beim nächsten | |
Vereinsfest im Schützenhaus wieder am Tisch. Allein hätte er sich zuhause | |
gelangweilt und einen zweiten Punk gab es nicht. In einer Stadt wie | |
Rosenheim aber, 60.000 Einwohner, mitten in Oberbayern, funktioniert das | |
Prinzip noch. Immerhin zwei Dutzend Punks leben hier und alle paar Wochen | |
spielt eine Band in der Vetternwirtschaft, einem linken Club am Stadtrand. | |
## Bürgerwehr, Starkbierfest und Langeweile | |
Die Langeweile ist zumindest nicht so groß, dass sie Sid in den | |
Schützenverein treibt. Trotzdem steckt die Stadt tief genug in der Provinz, | |
damit sich die Punks an etwas reiben können. An der Grünanlagenordnung zum | |
Beispiel, die es ihnen verbietet, im Park Bier zu trinken. An der | |
Sicherheitswacht, einer Art Bürgerwehr, die die Grünanlagenordnung | |
durchsetzt. Oder am Starkbierfest und seinen Besuchern. | |
Einem von ihnen begegnen Sid und seine Freunde gegen Mitternacht. Sie | |
machen sich gerade auf den Weg ins „Blackout“, einem Heavy-Metal-Club. | |
Nicht direkt Punk, aber zumindest Musik mit lauten Gitarren. Als die Punks | |
die WG verlassen, schallt aus der Kneipe gegenüber Pop aus den Neunzigern: | |
„Boomerang“ von Blümchen. Ein paar Lederhosenträger stehen vor der Kneipe | |
und als einer von ihnen die Punks sieht, hebt er sofort den rechten Arm. | |
Kaum zu glauben, das volle Klischee. Ein Bayer, eine Lederhose, ein | |
Hitlergruß. | |
Aber es ist nun mal so: An diesem beliebigen Bierfest-Abend reichen in | |
Rosenheim grüne Haare, um einen Nazigruß zu kassieren. Ein Einzelfall? „Das | |
kommt hier manchmal vor“, behauptet Didi, der Mitbewohner. In der Stadt | |
wehe ein rechtskonservativer Wind, sagt ein linker Aktivist aus der Region: | |
Die Rosenheimer wählen regelmäßig Kandidaten der „Republikaner“ in den | |
Stadtrat. Am Volkstrauertag durften bis vor wenigen Jahren SS-Veteranen | |
ihre Kränze niederlegen. Und als die Polizei im Umland einmal ein | |
Waffenlager von Rechtsextremen aushob, sagte der Dorfbürgermeister, wegen | |
ein paar Gewehren müsse sich niemand Sorgen machen. | |
## Mit Reichskriegsflagge durch die Innenstadt | |
Die Angreifer aus dem April 2013 sind mehr als rechtskonservativ. Sie hören | |
Musik des Rechtsrockers Lunikoff und zogen vor ihrer letzten Attacke mit | |
einer Reichskriegsflagge durch die Innenstadt. Als Neonazis könne man sie | |
aber nicht bezeichnen, betont man bei der Rosenheimer Polizei hinter | |
vorgehaltener Hand: Die Täter seien schließlich rechte Säufer und keine | |
organisierten Aktivisten. | |
„Durch besonderen Verfolgungseifer haben sich die Behörden nicht | |
ausgezeichnet“, sagt Hartmut Wächtler, Sids Rechtsanwalt. Nach dem Überfall | |
auf die WG habe die Staatsanwaltschaft monatelang nichts unternommen und | |
dann das Ermittlungsverfahren eingestellt. Nach Paragraf 154 der | |
Strafprozessordnung, der besagt: Wer zwei Taten begangen hat und für eine | |
davon vor Gericht steht, muss für die andere nicht unbedingt bestraft | |
werden. So spart sich die Justiz Ermittlungen und Prozesse. „Die Geschichte | |
macht schon stutzig“, sagt Rechtsanwalt Wächtler. „In Rosenheim verfolgt | |
die Staatsanwaltschaft jeden kleinen Kiffer, aber dieses Verfahren stellt | |
sie ein.“ | |
Zumindest für den Angriff auf zwei türkischstämmige Jugendliche kamen die | |
Neonazis vor Gericht. Die beiden Haupttäter mussten ins Gefängnis, zwei | |
weitere Angeklagte erhielten Bewährungsstrafen. Unter „Sieg Heil“-Rufen | |
hatten sie im April 2013 auf die Teenager eingeschlagen. Rassismus? Die | |
Täter hätten ihre Opfer wahllos ausgesucht, heißt es im Amtsgericht | |
Rosenheim. | |
Der Staat habe die Gefahr des gewaltbereiten Rechtsextremismus völlig | |
falsch eingeschätzt, stellte der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags | |
im vergangenen Jahr fest. In Rosenheim gilt das vielleicht noch immer. Und | |
offenbar nicht nur dort. Nachdem im Januar in Germering bei München ein | |
Flüchtlingsheim brannte, schloss die Polizei Ausländerhass als Motiv | |
vorschnell aus. In Dachau bedrohen Unbekannte seit Monaten die Betreiber | |
eines alternativen Jugendzentrums, die Behörden ermitteln nur halbherzig. | |
Und im bayerischen Innenministerium prüft eine Arbeitsgruppe seit sieben | |
Monate die Reformvorschläge des NSU-Untersuchungsausschusses – bislang ohne | |
Ergebnis. | |
## Waffen in Griffweite | |
Die Rosenheimer Punks haben ihre Waffen deshalb immer noch in Griffweite. | |
Sicher ist sicher. Sie schlafen zwar nicht mehr in ihren Schutzwesten wie | |
in den Wochen nach dem Angriff. Sid braucht auch keine Tabletten mehr, um | |
abends einschlafen zu können. Aber die Schreckschusspistole hat er bisher | |
nicht weggepackt. | |
Sie liegt neben seinem Kopfkissen, Nacht für Nacht, seit einem Jahr. „Die | |
Nazis standen vermummt in meinem Zimmer. Die meinten es richtig ernst“, | |
sagt er. Die Sache mit dem Punk, den Iros und der Provokation funktioniert | |
in Rosenheim eben noch richtig gut. Beinahe zu gut. | |
5 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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