| # taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 18: Der Führer liegt auf der Nase | |
| > Ganz nah dran: Je mehr ich mich mit dieser Geschichte beschäftige, desto | |
| > mehr zerstiebt alles zu Staub, was ich vorher über die NS-Zeit zu wissen | |
| > meinte. | |
| Bild: Da lag er flach: Hitler 1929 in gewohnter Pose. | |
| Er hat die Hitlers immer verkehrt herum geklebt, mein Großvater. Dessen | |
| Profil war nämlich auf allen Briefmarken drauf. Also Hitlers jetzt. Zwölf | |
| Pfennig Porto hat ein Brief damals gekostet, Postkarten sechs. Meistens hat | |
| er zwei Sechs-Pfennig-Marken nebeneinander geklebt, dass der Führer auf der | |
| Nase lag. Wenn er eine Karte schickte oder eine Zwölfer-Marke benutzte, hat | |
| er ihn immer auf den Kopf gestellt. | |
| Die Umschläge hat Mütterchen nicht aufgehoben. Aber es gab so | |
| megapraktisches Briefpapier, das hatte am Rand Klebestreifen zum Anlecken, | |
| Umknicken und Zukleben. Das benutzte er manchmal. Das war Briefpapier und | |
| Umschlag in einem. Deshalb weiß ich auch ihre Gubener Adresse so genau: „2 | |
| Guben, Kurmärkische Str. 37 III“. Die Zwei vorne ist die Postleitzahl. Auf | |
| manchen Briefen sind Stempel neben der Briefmarke: „Vergiss nicht Straße | |
| und Hausnummer anzugeben“. Ob manche Leute einfach „Onkel Hansi in Königs | |
| Wusterhausen“ auf ihre Briefe geschrieben haben? | |
| Sandy gewöhnt sich schnell in Jena ein. Als OT-Hilfsarbeiter darf er das | |
| Lager verlassen und durch die Stadt spazieren. Da er dieselbe | |
| Sträflingskleidung wie alle anhat, wird er nicht als jüdisch erkannt. Er | |
| darf sogar in öffentliche Bibliotheken. Je mehr ich mich mit dieser | |
| Geschichte beschäftige, desto mehr zerstiebt alles zu Staub, was ich vorher | |
| über die Zeit zu wissen meinte. | |
| Dreimal hatten wir „Deutsche Geschichte bis 1945“ in der Schule. In der | |
| achten, der elften und die ganze dreizehnte durch. In der Amerika | |
| Gedenkbibliothek sind zwei Drittel der Regale, an denen „Deutsche | |
| Geschichte“ dransteht, mit Nazizeit voll. | |
| Und trotzdem stammt alles, was wir wissen über die Zeit, was wir | |
| verinnerlicht haben, aus Spielfilmen, Belletristik, Kunst. Gut, wenn es ein | |
| Roman von Jurek Becker; schlecht, wenn es ein ZDF-Dreiteiler ist. | |
| Die Briefe aus Jena sind uuuuunglaublich verkopft. Am 10. Dezember schreibt | |
| Sandy einen elf Seiten langen Brief an Mütterchen, in dem er vor allem die | |
| Ergebnisse der Diskussionsrunde vom Vorabend darlegt, nach Themen | |
| gegliedert: | |
| „1. ’Kultur‘“ (anderthalb Seiten) | |
| „2. Gott und Unsterblichkeit“ (zweieinhalb Seiten) | |
| „3. Kapitalismus und Kommunismus“ (drei Seiten) | |
| Auf Seite 9 hat er vier Zeichnungen vom Lager eingefügt. Alle aus der | |
| Vogelperspektive. Von Bild zu Bild rückt er näher ran. Wie gezoomt bei | |
| Google Maps. | |
| „Jena“ steht über dem ersten. Der Saalbahnhof ist eingezeichnet, dann | |
| etwas, das die Saale sein könnte und zwei Straßen, die sich kreuzen. | |
| „Straße der SA“ hat mein Großvater an einen Pfeil geschrieben, „Breite | |
| Straße“ an den anderen. Einen halben Tag lang scrolle ich durch die | |
| Satellitenansicht von Jena. Danach getraue ich mich, zu vermuten, dass der | |
| heutige Jenzigweg 1944 die „Straße der SA“ war und das Lager dort, wo heute | |
| das Freibad ist. | |
| Das zweite Bild heißt „Lager“. „Modder“ steht in Großbuchstaben in der | |
| Mitte der Zeichnung, dazu vier Rechtecke. „Unsere Wohnbaracke“ steht am | |
| ersten Rechteck, daneben: „künftige Waschbaracke“, darunter: „im Bau | |
| befindliche Wohnbaracke, weil noch ein Haufen kommen soll“. Dazwischen | |
| steht wieder „Modder“ und an einem ganz kleinen Viereck: „Wasserhahn, von | |
| wo wir vorläufig noch Wasser in die Stube holen müssen“. | |
| „Überall Modder“, steht in Klammern darunter. „Die herrlichen Holzschuhe, | |
| die wir, ebenso wie Drillichzeug und Filzhandschuhe, von der OT bekamen, | |
| sind nicht nur herrlich warm, sondern geben auch die einzige Möglichkeit, | |
| den Schmutz, in den der Herbstregen den Sportplatz verwandelt hat, zu | |
| durchschreiten.“ | |
| Das dritte Bild trägt den Titel „unsere Wohnbaracke“, das vierte „Stube … | |
| Neun Zimmer sind in einer Baracke, acht Doppelstockbetten in jeder Stube. | |
| Macht 144 Häftlinge pro Baracke bei voller Belegung. | |
| Sandys Philosophenfreunde, die „Maxis“, wie er sie nennt, wohnen in Stube | |
| acht, in die er bald darauf umziehen wird. | |
| In der Mitte des vierten Bildes steht an einem langen Rechteck „Tisch“, ein | |
| kleines Quadrat heißt „Ofen“. Daneben steht: „(doll warm ist’s immer)�… | |
| Da sitzt er in dem Moment, in dem die Tinte den Füllfederhalter verlässt | |
| und das Papier berührt, in die oberen Schichten eindringt, trocknet, zu | |
| Linien und Punkten wird, zu Schrift, zu einer Zeichnung der Stadt, des | |
| Lagers, der Baracke, der Stube, in der er sitzt und schreibt und zeichnet. | |
| Woher nimmt er eigentlich die Zeit, einen derart ausufernden Brief zu | |
| schreiben, überlege ich. | |
| Auf Seite 8 schreibt er: „Eben kommt die halbe Stube aus dem Kino zurück, | |
| die Idioten sind in den ’Florentiner Hut‘ gegangen [eine Komödie mit Heinz | |
| Rühmann von 1939], und natürlich von der Dummheit dieses Films entsetzt, | |
| mir glaubt man ja nicht. Immerhin spricht noch für die Knaben, dass sie den | |
| Film doof fanden. (Ich bin, als ich vor 3 Jahren mal reingeriet, nach 1/4 | |
| Stunde rausgerannt.) – | |
| Die geistige Atmosphäre der Lager-Intellektualität habe ich Dir nun wohl | |
| schon etwas nahegebracht. | |
| Ich laufe allgemein unter dem Namen ’der Philosoph‘ oder einfach | |
| ’Philosoph‘. Lustig ist’s, wenn einer ruft ’he, du, Philosoph, kipp mal | |
| gefälligst dein Waschwasser aus, die Schüssel wird gebraucht‘ (pro Stube | |
| gibt’s 2) – aber der Name ist mir natürlich nicht unsympathisch.“ | |
| Das ist ein Sonntag, fällt mir ein. Der 10. Dezember 1944 war ein Sonntag, | |
| der dritte Advent, zwei Wochen vor Weihnachten. Er muss den ganzen Tag am | |
| Tisch neben dem Ofen verbracht haben. Wie einsam er sein muss! Noch immer | |
| hat er keine Post von Mütterchen bekommen, nur ein Telegramm aus Berlin, | |
| dass beim letzten Bombenalarm niemand zu Schaden gekommen ist. Der arme | |
| Kerl! | |
| Sein Brief vom 1. 12., in dem die Postadresse stand, ist nicht bei | |
| Mütterchen angekommen, auf die Idee, die Adresse zu wiederholen, ist er | |
| aber erst vorgestern gekommen. Ein Telefonat nach Guben kam bisher nicht | |
| zustande. | |
| Sandy schreibt, um sich abzulenken, wegzubeamen, hin zu Mütterchen. | |
| Der erste Satz dieses Monsterbriefs (Als Anhang kommen noch drei Seiten | |
| Jaspers-Reflexionen hinzu) ist vermutlich der ehrlichste in dem ganzen | |
| Pamphlet: „Ganz kurz lässt sich der Inhalt dieses Briefes in 4 Worten | |
| zusammenfassen: Sandy hat große Sehnsucht.“ | |
| ## ■ Am 8. 4., 19.30 Uhr, liest Lea Streisand im taz-Café | |
| 3 Apr 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Streisand | |
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