# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 16: "Verseuchte Frauen" | |
> Das Ende ist nah: Großvater steht im November 1944 vor der Deportation | |
> ins Arbeitslager und flüchtet sich in Zynismus. | |
Bild: 1944 - hier Schauspieler in einem Film - war der Krieg längst in Berlin … | |
Die letzten Briefe, die mein Großvater an Mütterchen schrieb, bevor er | |
deportiert wurde ins Arbeitslager der Organisation Todt nach Jena, sind von | |
einer Überschwänglichkeit, die ich, von heute aus betrachtet, fast | |
unanständig finde. Am 22. 11. 44 schreibt Sandy: „Die OT-Musterung dauerte | |
von 12 bis 6. Der Transport geht am Mittwoch, den 29. 11. los, wir müssen | |
um 9 Uhr in Eichkamp sein. Das Publikum war wirklich gut, von den 90 waren | |
nur 4,5 Untermischlinge. (Meine Schwester meinte, das waren ar. Männer von | |
verseuchten Frauen).“ | |
Mir stockt der Atem vor so viel Zynismus. „Verseuchte Frauen“. Ich glaub, | |
es hakt. | |
Was mag Mütterchen gedacht haben, wenn sie solche Briefe bekam? Hat sie den | |
Kopf geschüttelt über so viel Selbstabwertung, so viel Anpassung? Ich kann | |
es manchmal kaum ertragen, das zu lesen, mitzuerleben, wie widerstandslos | |
der Mann ins offene Messer rennt. Wie er sich treiben lässt und | |
herumschubsen. Ich weiß schon, dass er, hätte er aufgemuckt, vermutlich | |
sein Leben riskiert hätte. Aber dass er dann auch noch so redet wie die | |
Nazis, so schreibt, ironisch gebrochen, manchmal erschüttert mich das. | |
Meine Tante hat erzählt, ihre Tante hätte mal gesagt, die Nürnberger | |
Gesetze wären damals eine Erleichterung gewesen. „Endlich wusste man, woran | |
man war“, hat sie gesagt. „Endlich hörten die willkürlichen Übergriffe a… | |
und es gab Gesetze, an die man sich halten konnte.“ Gesetze, die auf | |
direktem Weg in die Gaskammern führten. | |
Aber das wussten sie ja nicht, damals, schreibt mein Urgroßvater Hati, der | |
Buchhändler, 1947 in seinen Lebenserinnerungen: „Wenn man die unmittelbare | |
Schuld gerade an den in den Lagern verübten Greueln so häufig dem gesamten | |
deutschen Volke zuschiebt und sagt, daß es unmöglich wäre, daß nicht jeder | |
davon gewußt haben müßte, so möchte ich dazu einige eigene Beobachtungen | |
wiedergeben. Unter der großen Zahl meiner jüdischen und sozialistischen | |
Freunde waren mehrere, die längere Zeit im Lager verbracht hatten und dann | |
aus den verschiedensten Gründen wieder freigelassen wurden. Ich sprach | |
einige von ihnen nach der Entlassung: alle erzählten, obwohl mit tiefster | |
Erbitterung, nur in den unbestimmtesten Ausdrücken von ihren Erlebnissen.“ | |
Sagt der Mann, der seit Ende der 1930er unter schweren Depressionen litt | |
und sich die meiste Zeit in seinem Zimmer verschanzte. Dessen eigene | |
Schwester deportiert und in Theresienstadt ermordet wurde, weil sie nicht | |
wie er einen „arischen“ Ehepartner hatte. Weil ihr nicht-jüdischer | |
Bräutigam schon im ersten Weltkrieg gefallen war und sie sich danach keinen | |
neuen Mann gesucht hatte, den sie „verseuchen“ konnte, um sich selbst ein | |
bisschen „reiner“ zu waschen in den Augen der Nazis. Weil sie deshalb als | |
„Volljüdin“ galt nach den Gesetzen, die dieser preußisch-protestantisch | |
erzogenen Familie angeblich Halt gegeben haben. | |
Kotzen könnte ich, wenn ich drüber nachdenke. Ein Schauer läuft mir den | |
Rücken runter. | |
Vor fünf/sechs Jahren hat das angefangen, dass ich plötzlich Panikattacken | |
bekam, wenn ich Holocaust-Filme im Fernsehen sah. Irgendein Schalter legte | |
sich um. Mir brach der Schweiß aus, die Kehle schnürte sich zu, der | |
Herzschlag beschleunigte sich, der Atem wurde flach. Ich konnte diese | |
verwackelten schwarz-weiß Bilder nicht mehr sehen. Die ausgemergelten | |
Leiber, kahlgeschorenen Köpfe, Augenhöhlen, Knochenberge, Schuhberge, | |
Brillenberge. Den Schriftzug „Arbeit macht frei“. | |
Paul ist mit mir zum Mahnmal gegangen am Brandenburger Tor, und ich stand | |
zwischen den Stehlen und habe gewütet, weil man in jedem der Gänge immer | |
noch das Licht am Ende sehen konnte. „Aber die haben kein Licht gesehen!“, | |
hab ich gerufen, „das war doch die Scheiße!“ | |
Mein Urgroßvater war erfüllt von einem Urvertrauen in den paternalistischen | |
Staat, der streng, aber gutherzig zum Wohle seiner Bürger handelt. Bloß | |
blöd, dass Hati offiziell kein Bürger mehr war nach den Nürnberger | |
Gesetzen. Seine Methode, mit dieser Entehrung umzugehen, war, die Nazis im | |
Gegenzug einfach nicht für voll zu nehmen, sondern sie für Trottel zu | |
halten, für hirnlose Hooligans. | |
„Ein großer Teil meiner jüdischen Verwandten und Bekannten verließ | |
Deutschland sofort bei der Machtergreifung’“, schreibt er. „Ich dachte | |
nicht daran. Einmal fühlte ich, dessen Vorfahren seit Generationen mit den | |
Bemühungen um das deutsche Buch verknüpft waren, mit völliger | |
Selbstverständlichkeit als Deutscher und hatte keinesfalls die Absicht, | |
diesen Anspruch gegenüber einer randalierenden Rotte einfach aufzugeben; | |
andererseits erschien mir diese Mischung von Gangster- und Banditentum, wie | |
sie sich beim Reichstagsbrand, im Benehmen der SA, bei den Ereignissen des | |
Juni 1934 zeigte, so untergangsreif und lebensunfähig, dass ich völlig von | |
ihrem schnellen Abwirtschaften überzeugt war.“ | |
Hati war siebzig Jahre alt, als er diesen Text schrieb. Mein Urgroßvater | |
war Nationalkonservativer und Salonsozialist. Er konnte einfach nicht | |
glauben, dass die Ordnung, jener Staat, den er mit aufgebaut und getragen | |
hatte, sich nun gegen ihn wendete. | |
Aus der Enttäuschung meines Urgroßvaters ist der Zynismus seiner Kinder | |
hervorgegangen, der mich wiederum manchmal so wütend macht und mich | |
manchmal zum Lachen bringt. Mütterchen war noch mal in Berlin vor Sandys | |
Deportation. Am Sonntag, den 26.11.44 schreibt Sandy um 23.30 Uhr: | |
„Wenn ich daran denke, dass du noch nicht mal zu Haus bist und morgen schon | |
wieder um 1/2 6 aufstehen musst, komme ich mir vom Schicksal ausgesprochen | |
bevorzugt vor. Roserie hat auch soeben verkündet, nach dem Siege werde sie | |
erstmal schlafen. Tu’s bitte schon vorher!“ | |
20 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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