# taz.de -- Der Fortsetzungsroman: Kapitel 15: Unerwünscht in Charlottenburg | |
> Ende 1944 stehen Mütterchen und Sandy vor der schwierigen Frage: Kann man | |
> große Liebe leben? Oder nur denken? | |
Bild: Schick, die junge Dame, hier im Jahr 1941. | |
Und dann schmeckten sie das erste Mal die Fadheit des Alltags. Ende | |
November 1944 trafen sich Mütterchen und Sandy in Berlin in der Wohnung | |
seiner Eltern in der Eislebener Straße 4 in Charlottenburg. Es waren die | |
letzten Tage, bevor er zur Organisation Todt nach Jena musste. | |
Während der Goldberger Zeit war Mütterchen fast jedes Wochenende zu ihm | |
gefahren. Manchmal kam Sandy auch nach Guben. Kurze Tage voller | |
Leidenschaft und Grießbrei, die die beiden hauptsächlich im Bett | |
verbrachten. | |
Mütterchen hat mir erzählt, sie habe ihrem Bett in Guben die Beine | |
abgesägt. Das fand sie schicker. Sie wollte kein Bett mit Kopf- und | |
Fußteil, sie wollte lieber eine Couch. | |
Richtig verstanden hab ich das nie. Aber ich verstand, dass sie nicht | |
spießig sein wollte. Mein erstes Bett, in dem ich Sex hatte, war ein Futon, | |
hart wie ein Brett, den man eigentlich täglich hätte aufrollen müssen, was | |
ich aber nicht gemacht habe, weil ich schlicht zu faul war. Apropos faul. | |
Es gab Stress in Berlin. Es war das erste Mal, dass die beiden mehr als | |
zwei Tage am Stück miteinander verbrachten. Die Beziehung der beiden fand | |
eher in Briefen statt als im realen Leben. Und nun hatten sie gleich eine | |
ganze Woche Realität. Nicht im abgeschiedenen Winkel mit endlich genug | |
Zeit, um die seit Monaten brennende Sehnsucht zu stillen. Nein. In der | |
Wohnung seiner Eltern, ihrer zukünftigen Schwiegereltern, die sowieso was | |
gegen die Verbindung hatten. | |
Für Mumi war Mütterchen nie gut genug. Zu schlampig, zu unordentlich, zu | |
wenig gebildet, schlicht: zu ordinär. Und keine Jungfrau. Je länger ich | |
darüber nachdenke, desto mehr Parallelen zwischen ihr und der britischen | |
Königin fallen mir ein. Sie war die Queen, ihr Sohn der Kronprinz und der | |
sollte auf keinen Fall eine Camilla abkriegen. | |
Es gibt einen sehr süßen, mit Bleistift geschriebenen Brief vom 20. 11. 44 | |
„in Berlin zu Hause“: | |
„Meine geliebte Juschka, ehe ich dich in der Wohnung suchen gehe (der Kuss, | |
den ich dir gebe, wenn ich dich gefunden habe, gehört in diesen Brief), | |
kriegst du noch einen Gruß und den bereits gehabten Kuss.“ | |
Danach die üblichen Liebesschwüre. „Auf ewig“ und so. | |
Der Brief danach ist vom selben Tag, wurde aber nach Guben geschickt. Er | |
ist mit Tinte geschrieben. | |
„Meine. Ob’s auch für Dich die schwierigsten Tage, die uns bisher beschert | |
wurden, waren? Nicht der ,leisen Kräche‘ wegen – die waren erst die Folge. | |
Die eigentliche Schwierigkeit liegt für mich in der Rollenwandlung. In | |
Berlin bin ich doch ganz cand. phil. in einer gesicherten Häuslichkeit und | |
von der Bücherwelt so erfüllt, dass früher nichts anderes so recht Platz | |
darin hatte, geschweige denn die Bücherwelt von diesem Anderen beherrscht | |
werden konnte. Goldberg war uns beiden insofern günstiger, als ich da genau | |
wusste, wie ich Dich brauche, und Zeit zum Wachsenlassen da war. Plötzlich | |
in eine lange vergessene Rolle zurückzukommen – nämlich des Knaben, der | |
mehrere Tage Zeit zum Lesen hat – und zugleich zu wissen, dass alles anders | |
geworden ist, dass wir jetzt dieser Welt gegenüberstehen, und das Vertraute | |
doch verwandelt ist: Du, das ist alles sehr schwer. | |
Ich habe Dir, glaube ich, mal erzählt, dass Du in einem günstigen | |
Augenblick aufgetaucht bist, wo ich Dich brauchte, wie ich nie einen | |
Menschen gebraucht habe – ich brauche Dich in Berlin genauso, aber der | |
„ich“ ist ein anderer. Schon dass ich in Goldberg mangels dauernder Zufuhr | |
neuen Lesefutters auf eigene Produktivität angewiesen war, hier aber auch | |
dann mich nicht zu langweilen brauche, wenn ich gar nicht selbst denke, | |
sondern ,bloß lese; schon das macht es ja für uns beide so schwierig. Es | |
sind so viele Verführungen da. Mit dem Schuttplatz bin ich leichter fertig | |
geworden als mit meinen Bücherregalen. Die Tränen im Zug waren verdammt | |
echt. Ich habe Sehnsucht nach Dir und gerade in Berlin will ich mit Dir | |
zusammen sein. Ich muss Dich noch einmal bitten, zu verstehen, warum ich | |
nicht nach Guben komme: weil ich von den Realaufregungen zu ermüdet bin, um | |
das noch mal anzufangen, weil die Familie sehr böse wäre, wenn ich jetzt | |
wegführe, ja – weil ich Dich eben in meiner Welt unterbringen will, und | |
nicht sofort in „unsere“ ausrücken. Ich weiß, dass ich Dir wehgetan habe | |
und darum bin ich so traurig geworden.“ | |
Ich kann mir schon vorstellen, wie Mütterchen sich gefühlt hat, das Mädchen | |
aus einfachem Hause, erst Einzelkind, dann Vollwaise, immer auf sich allein | |
gestellt. Da trifft sie diesen acht Jahre jüngeren Mann, der so viel Liebe | |
zu geben hat, so viel Leidenschaft, so witzig ist und eloquent und ihr | |
dermaßen zu Füßen liegt, der ihr jeden Tag den Himmel auf Erden verspricht, | |
verschreibt. Der ihr die Ehe verspricht. Jeden Tag aufs Neue. Sie hat schon | |
mal einen Mann an Hitler verloren, den jüdischen Arzt, ihre erste große | |
Liebe. Der ist 1938 in die USA emigriert wie die meisten ihrer jüdischen | |
Freunde. Dafür hasst Mütterchen Hitler. Aus tiefster Seele. Aus tiefster | |
Überzeugung. | |
Und dann kommt dieser Student und sie verlieben sich. Jetzt wird alles gut, | |
denkt Mütterchen und dann trifft sie seine Familie. | |
Mütterchen sitzt da in Charlottenburg an dem großen schweren Eichentisch, | |
unter dessen Verstrebungen sich ihre beiden Töchter zehn Jahre später | |
Höhlen bauen werden und Verstecken spielen. Sie sitzt da und schaut dieser | |
Familie zu, die jetzt ihre werden soll. Wie sie sich lateinische Brocken an | |
den Kopf werfen. Wie der Schwiegervater von den ganzen berühmten Leuten | |
erzählt, die er in seiner Buchhandlung getroffen hat. Rilke, Mühsam, Trier, | |
das ganze „Café Größenwahn“ hat bei dem eingekauft. Mütterchen wird imm… | |
stiller. Es ist ganz klar, dass sie hier nicht gewünscht ist. Die | |
Streisands wollen ihren Sohn bei sich haben. Ihre Anwesenheit in diesem | |
Kreis ist nur der Preis, den die Eltern zu zahlen gezwungen worden sind. | |
Die grundsätzliche Frage ist: Kann man große Liebe leben? Oder nur denken? | |
13 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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